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Gedanken aus der Schweiz

In der Schweiz leben um die (rund) 9 Millionen Einwohner, also die Hälfte des bevölkerungsreichsten Bundeslandes Deutschlands, Nordrhein-Westfalen. Deutschland ist in jeder Hinsicht mit Abstand der wichtigste Partner der Schweiz. 70 % der Schweizerinnen und Schweizer sprechen deutsch und haben somit die gleiche Sprache und Kultur. Gegen 340.000 deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger leben dauerhaft in der Schweiz. Sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz ist das Gesundheitswesen föderalistisch strukturiert (Bundesländer, beziehungsweise Kantone). Gemäß Umfragen besteht vermehrt der Wunsch nach Teilzeitarbeit, der Leistungsdruck in den Spitälern steigt, viele Kliniken haben offene Stellen [1]. Zahlreiche Ärztinnen und Ärzte der Baby-Boomer-Generation erreichen das Rentenalter und ziehen sich aus dem aktiven Berufsleben zurück. In den vergangenen Jahren sind Gesetze in Kraft getreten, die eine Reduktion der Arbeitszeit verlangen, was den Fachkräftemangel akzentuiert. Durch die Reduktion der Arbeitszeit wird die Ausbildung in chirurgischen Fächern nicht gerade erleichtert. Wie sollen die Facharztkandidatinnen und -kandidaten in der üblichen Weiterbildungszeit noch genügend operative Routine erlangen? Die Ausbildungsdauer nimmt tendenziell zu.

Status quo

Die zu lösenden Probleme sind nebst ungebremstem Kostenanstieg hauptsächlich zunehmender Fachkräftemangel, also in beiden Ländern fast identisch. Dennoch gibt es einige gewichtige Unterschiede.

In der Schweiz sind ungefähr 40.000 Ärztinnen und Ärzte tätig, wovon 40 % ihr Medizinstudium im Ausland absolviert haben, die Hälfte davon in Deutschland. Ohne „Support“ unserer Nachbarländer müsste in der medizinischen Versorgung in der Schweiz der Notstand ausgerufen werden. Im Jahr 2040 sollen nach Schätzungen 5.000 Ärztinnen und Ärzte fehlen. Endlich reagiert die Schweizer Politik und will die Medizinstudienplätze markant erhöhen. Unlängst hat das eidgenössische Parlament in Bern die Abschaffung der umstrittenen Eignungsprüfung (eine Art Numerus clausus) beschlossen, an welcher mehr als die Hälfte der Kandidatinnen und Kandidaten für das Medizinstudium scheiterten. Wie viele dennoch geeignete Studentinnen und Studenten in den vergangenen Jahren an diesem Examen hängen geblieben sind, bleibt für immer ein Geheimnis.

Vom Beginn des Studiums dauert es mindestens 12 Jahre bis die Facharztausbildung abgeschlossen ist und die neuen Kolleginnen und Kollegen einigermaßen eigenverantwortlich handeln können. Kurzfristig sind die Anstrengungen, mehr Studentinnen und Studenten zum Medizinstudium zu animieren keine Option.

Als kurzfristig wirksame Maßnahme bleibt lediglich der Versuch, ausgebildete Ärztinnen und Ärzte vom Ausstieg aus der Medizin abzuhalten. Präzise Zahlen existieren nicht. Es wird vermutet, dass bis zu 30 % im Verlaufe der Jahre vorzeitig der Medizin den Rücken kehren. Die Gründe mögen vielfältig sein: Frauen, die aus familiären Gründen ausscheiden, weil vielerorts keine geeigneten Teilzeitmodelle angeboten werden, sowie jüngere Kolleginnen und Kollegen, die sich infolge allseits anerkanntem Bürokratiewahnsinn enttäuscht abwenden, weil sie mehr Zeit vor dem Computer verbringen als im Kontakt mit Patientinnen und Patienten. Allgemein akzeptiertes Anliegen unter Spitalärztinnen und Spitalärzten ist der dringende Wunsch, die ausgeuferte Bürokratie zu straffen.

Mentoringprojekt

Die Ausbildung auf Assistenzarztniveau in der Schweiz gilt offiziell als gut. Gemäß den jährlichen Umfragen von der FMH (Foederatio Medicorum Helveticorum, entspricht der Deutschen Bundesärztekammer) und dem Schweizerischen Institut für Weiter- und Fortbildung (SIWF) schließt die Globalbeurteilung von 648 ausgewerteten Fragebögen für das Fach Chirurgie im Jahr 2023 mit der Note 4.5 ab (6 wäre die beste Note). Verbesserungspotential ist also sicherlich vorhanden. Das SIWF ist ein Tochterunternehmen der FMH. Es ist verantwortlich und zuständig für die Facharztausbildung und erteilt die entsprechenden Diplome [2].

Ziel einer guten Ausbildung ist die Vermittlung von Kompetenzen. Gute Ausbildung hängt wesentlich von Mentorinnen und Mentoren ab. Eine Möglichkeit, die bis heute noch wenig praktiziert wird, ist der Teilzeiteinsatz von emeritierten Chefärztinnen und Chefärzten in der Notfallstation.

Schweizweit sind gemäß offizieller Statistik 1.226 Assistenzärztinnenstellen und Assistenzarztstellen für chirurgische Disziplinen verfügbar. Diese sind mit 648 Facharztanwärterinnen und -anwärtern besetzt, 434 übrigens mit Diplom aus einem EU-Staat [2]. Schweizer Randregionen bekunden oft Mühe, die verfügbaren Stellen zu belegen. Mit Mentoring-Projekten kann das Interesse und die Freude junger Leute am Beruf nachweislich gefördert werden. Im Spital Samedan, einem Regionalspital der erweiterten Grundversorgung im peripher gelegenen Engadin, einer bekannten und sowohl im Winter als auch im Sommer gut frequentierten alpinen Tourismusregion, sind zwei der Autoren (HPS, PB), beides pensionierte Chefärzte, je einmal monatlich für ein verlängertes Wochenende im chirurgischen Notfall tätig und decken somit etwaige Tage ab. Es ist unser Ehrgeiz, jede Patientin/jeden Patienten, die/der in die chirurgische Notfallstation eingeliefert wird oder sich als „walk-in-patient“ vorstellt, mit der zuständigen Assistentin/dem zuständigen Assistenten interaktiv zu beurteilen, die Diagnostik abzuschließen und Therapievorschläge zu erarbeiten. Kleinere Eingriffe, teilweise auch solche in Narkose, wie Wundversorgungen, Repositionen von luxierten Gelenken sowie Einlage von Thoraxdrainagen, werden zusammen oder unter Aufsicht vorgenommen. Durch diese enge Betreuung nach dem Prinzip des „Clinical Reasoning“ wird nicht nur die klinische Ausbildung deutlich verbessert, sondern auch Qualität und Effizienz im Betrieb [3–7]. Zudem wird das Pflegefachpersonal und das ärztliche Kader entlastet, was in einem Tourismusort wie Samedan mit teilweise extremen Spitzenbelastungen sehr erwünscht ist. Wir bemühen uns zudem, der Empfehlung von Hauke Lang, dem ehemaligen Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu folgen: „Die beste Investition in die nächste chirurgische Generation ist die Lehre, die für das Fach begeistert. Es muss gelingen, junge Menschen für die Chirurgie zu faszinieren, nicht nur verbal, sondern durch Begleitung im Alltag.“ Die pensionierten Chefärzte sind ausschließlich für die Notfallstation zuständig. Sie haben keine anderen Aufgaben, sind also nicht dauernd auf Visite, in der Sprechstunde oder im OP und schwer erreichbar. Im Weiteren erteilen sie interaktive Fortbildungen und beantworten gerne die zahlreichen Fragen, welche die meist jungen, noch unerfahrenen Kolleginnen gen haben.

Aus Sicht des amtierenden Chefarztes ist es eine Herausforderung, eine chirurgische Klinik in einer attraktiven Tourismusregion zu führen. Die Personaleinsatzplanung wird durch erhebliche saison- und wetterbdingte Schwankungen erschwert. In einem Tal mit 20.000 permanenten Einwohnerinnen und Einwohnern tummeln sich plötzlich 120.000 Personen, die oft sportlichen Aktivitäten frönen.

Unser Mentoringprojekt wird allseits geschätzt. Es wurde 2024 vom Schweizerischen Institut für Weiter- und Fortbildung (SIWF) mit einem Award für besonders gute Weiterbildung ausgezeichnet. Solche Projekte eignen sich vor allem für Regionalspitäler, die etwa für die Hälfte der medizinischen Versorgung in der Schweiz verantwortlich sind. Die großen Kliniken brauchen solche Projekte eher nicht, weil sie genügend Manpower haben. Die optimierte Weiterbildung durch dieses Mentoringprojekt hat sich herumgesprochen, da auch in den Medien darüber berichtet wurde. Das hat dazu geführt, dass die Anzahl Bewerbungen um Assistentinnen- und Assistentenstellen, insbesondere durch ehemalige Unterassistentinnen und -assistenten (entspricht dem praktischen Jahr PJ) an der Klinik für Chirurgie in Samedan deutlich angestiegen ist.

Es gäbe wohl genügend Mentorinnen und Mentoren

Zahlreiche Ärztinnen und Ärzte sind nach dem in der Schweiz mit 65 Jahren üblichen Eintritt ins Rentenalter nicht ausgebrannt und wären wohl gewillt und bereit, sich in Mentoringprojekten zu engagieren.

Besonders wichtig ist unseres Erachtens die Begleitung von Universitätsabgängerinnen und -abgängern, um ihnen den Übergang vom Studium zu selbstverantwortlichem Arbeiten zu erleichtern [8]. Unser Feedback deutet klar darauf hin, dass die jungen Kolleginnen und Kollegen ihren Notfalldienst bei unserer Präsenz und steten Verfügbarkeit vollkommen stressfrei bewältigen können. Unsere persönliche langjährige Erfahrung deckt sich mit den Resultaten einer nicht repräsentativen Umfrage unter den neun Assistentinnen und Assistenten der Chirurgischen Klinik am Spital Samedan. Die junge Generation ist hochmotiviert und bereit, bei Patientinnen und Patienten vollen Einsatz zu leisten. Teilzeitarbeit ist derzeit noch keine Option, käme allenfalls zu einem späteren Zeitpunkt für Frauen mit familiären Verpflichtungen in Frage oder könnte sehr erwünscht sein.

In grauen Vorzeiten hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass Frauen für die chirurgischen Fächer eher nicht geeignet sind. Dies haben glücklicherweise begabte Chirurginnen längst widerlegt. Wir sind geneigt, zu diesem Gerücht den früheren deutschen Staatsmann Helmut Schmidt zu zitieren, der einmal (allerdings in anderem Zusammenhang) gesagt haben soll: „Das ist so falsch, dass nicht einmal das Gegenteil davon richtig ist“.

Sollten alle geplanten und gestarteten Maßnahmen zur Bekämpfung des Fachkräftemangels scheitern, kann die Schweiz das tun, was sich bei Eishockey- und Fussballteams bewährt hat, wenn die eigene Nachwuchsabteilung nicht genügend Kaderspieler oder -spielerinnen hergibt: Auf dem Transfermarkt mit hohen Löhnen Spieler von anderen Clubs abwerben. Die Schweizer Spitallandschaft müsste attraktivere Arbeitsbedingungen, insbesondere für Frauen, schaffen und hohe Löhne zahlen. Dadurch ließen sich weiterhin Ärztinnen und Ärzte aus unseren Nachbarländern dazu animieren, in die Schweiz zu ziehen. Das ist nicht gerade ein freundnachbarliches Verhalten, aber möglicherweise zielführend. Mit diesen Methoden könnte das berühmte Merkel Zitat „wir schaffen das“ Gültigkeit erlangen.

Fazit

Der drohende Fachkräftemangel in chirurgischen Fächern nimmt sehr konkrete Formen an und wird sich in naher Zukunft noch drastisch verschärfen, weil die Babyboomer-Generation sich nach und nach aus dem aktiven Berufsleben zurückzieht. Die Nachwuchsförderung hat nicht rechtzeitig eingesetzt und nimmt bei nun erkanntem Problem mindestens 12 bis 15 Jahre in Anspruch, sodass die Schweiz über einen längeren Zeitraum dringend auf „freundnachbarliche Hilfe“ angewiesen bleibt. Als kurzfristige Option bleibt einzig der Versuch, aktive Ärztinnen und Ärzte vom Ausstieg aus der Medizin abzuhalten. Eine in kleinem Rahmen erprobte Möglichkeit ist der Teilzeiteinsatz von emeritierten Chefärztinnen und Chefärzten, beispielsweise in Notfallstationen, um junge Kolleginnen und Kollegen für die schönen und sehr befriedigenden chirurgischen Fächer zu begeistern.

Literatur

[1]   Rudert M, Ruchholtz S, Blätzinger M, Schädel-Höpfner M, Böcker W, Pennig D. Wie steht es um unseren Nachwuchs? Stellensituation in O und U für das Jahr 2023. Orthopädie und Unfallchirurgie 2023; 13: 22-23
[2]   https://www.siwf.ch/weiterbildungsstaetten/umfrage-assistenzaerzte.cfm
[3]   Biegger P, Conti M, Jäggi Chr, Schmitt H, Simmen H.P. Regionalspital geht neue Wege. SCHWEIZERISCHE ÄRZTEZEITUNG 2023;104(3):38-40
[4]   Guerra A, Biegger P. La formazione medica necessita miglioramenti? Se si, come? Esperienza all’Ospedale Regionale di Bellinzona e Valli. Tribuna medica ticinese 86 Novembre-Dicembre 2021
[5]   Biegger P. Überlegungen und Praxis in der Ausbildung der Humanmedizin SCHWEIZERISCHE ÄRZTEZEITUNG 2018;99(51–52):1843–1846
[6]   Biegger P. Braucht die medizinische Ausbildung einen Paradigmenwechsel? SCHWEIZERISCHE ÄRZTEZEITUNG 2016;97(21):764–766
[7]   Bowen JL. Educational strategies to promote clinical diagnostic reasoning. NEJM 355; 21:2217-2229
[8]   Luchsinger L, Berthold A, Bauerc W, Brodmann Maederd M, Siegrist M. Vom Studium in den Alltag als Arzt und Ärztin in Weiterbildung. SCHWEIZERISCHE ÄRZTEZEITUNG 2021;102(29–30):944–947

Korrespondierender Autor:

Prof. Dr. Hans-Peter Simmen

Professor emeritus für Chirurgie Universität Zürich

Ehemaliger Direktor der Klinik für Unfallchirurgie

Universitätsspital Zürich

Via Veglia 38

CH-7503 Samedan

hans-peter.simmen@uzh.ch

Paul Biegger

Ehemaliger Chefarzt

Reparto di Chirurgia

Ospedale La Carità

CH-6900 Locarno

Michel Conti

Chefarzt

Klinik für Chirurgie

Spital Oberengadin

CH-7503 Samedan

Panorama

Simmen HP, Conti M, Biegger P: Fachkräftemangel – ein nationenübergreifendes Problem. Gedanken aus der Schweiz.
Passion Chirurgie. 2025 April; 15(04):
Artikel 09.

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