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Die meisten Fehlbildungen, die im Neugeborenenalter operativ versorgt werden müssen, gehören zu den Seltenen Erkrankungen (SE) und treten seltener als in 1 : 2 000 Geburten auf. Obwohl es in Deutschland nur wenige große universitäre Zentren beziehungsweise große städtische Häuser mit der notwendigen Struktur zur Diagnostik, Behandlung und Nachsorge zur adäquaten Korrektur für diese Seltenen Erkrankungen (circa 30) gibt, führt gerade der Föderalismus zu einer Diversifizierung der kinderchirurgischen Kliniken. In jedem Bundesland gibt es zumindest eine universitäre und in der Regel mehrere große Häuser der Maximalversorgung, die alle für sich beanspruchen, eine spezialisierte Versorgung anbieten zu können. Die Folge ist, dass, obwohl so viele Kliniken vorhanden sind, diese anspruchsvollen Korrekturoperationen in den jeweiligen Kliniken vielfach weniger als dreimal im Jahr vorgenommen werden. Im Januar 2006 kam das Inkrafttreten des Anforderungskatalogs zur Zertifizierung von Perinatalzentren Level 1 komplizierend hinzu und es entstanden viele, vorwiegend kleine, kinderchirurgische Einheiten, die solche komplizierten Eingriffe oftmals seltener als einmal jährlich durchführen. Zusätzlich verhindert das Deutsche Vergütungssystem außerdem, dass Neugeborene mit seltenen Fehlbildungen in erfahrene Zentren verlegt werden, weil damit die Erlöse der zuweisenden Kliniken wegbrechen.

Die Folgen dieses Vorgehens sind für Betroffene oftmals sehr unbefriedigend und werden seit Jahrzehnten von Selbsthilfeorganisationen beklagt. Für die angeborenen Fehlbildungen ist jedoch eine interdisziplinäre Herangehensweise der Schlüssel zum Erfolg. Es müssen klare Leit- beziehungsweise Richtlinien für die prä- und postnatale Versorgung beachtet werden. In vielen Fällen existieren solche Leitlinien nur auf niedrigem Niveau in Deutschland. Diese müssen außerdem nicht zwingend eingehalten werden, sofern keine Komplikationen eintreten. Mögliche Begleitfehlbildungen müssen antizipiert und aktiv gesucht beziehungsweise ausgeschlossen werden. Die Behandlung der Fehlbildungen setzt aber auch eine strukturierte Nachsorge voraus, damit Komplikationen und vor allem übliche Probleme nach dem Korrektureingriff frühzeitig detektiert und adäquat behandelt werden können, nicht zuletzt um vermeidbare Folgeerkrankungen und Re-Operationen zu vermeiden sowie die Teilhabe der Betroffenen zu gewährleisten. Prinzipiell können mithilfe einer Strukturabfrage der Kliniken die notwendigen Voraussetzungen überprüft werden.

Aus anderen Bereichen der Chirurgie ist hinreichend bekannt, dass eine Zunahme der Fallzahlen (das Stichwort ist hier „Mindestmenge“) die Expertise steigen lässt, zu weniger Komplikationen und somit zu besseren Endergebnissen führt. Man muss jedoch berücksichtigen, dass es sich um Erkrankungen handelt, die höchstens 200- bis 250-mal jährlich in Deutschland anzutreffen sind. Bei einigen Fehlbildungen kann die Diagnose bestenfalls zu 80 Prozent pränatal gestellt werden, aber es bleiben trotz aller Sorgfalt genügend Fälle, die überraschend bei der Geburt festgestellt werden. Das bedeutet, dass trotz einer möglichen Zentralisierung hohe Mindestmengen einfach nie zu erreichen sind. Trotzdem gibt es genügend Anzeichen, die für die Zentralisierung und die Einführung von Mindestmengen sprechen. Die Etablierung von Zentren ist ein wichtiger Schritt, um dieses Ziel zu erreichen.

Die Definition eines Zentrums ist bislang kein geschützter Begriff und erst mit den Europäischen Referenznetzwerken ERN (European Reference Networks) und NAMSE (Nationales Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen) wurden klare Kriterien definiert, die ein Zentrum für SE ausmachen. Allerdings sagt eine Definition über Mindestmengen nicht aus, ob in der jeweiligen Klinik auch die notwendige Infrastruktur vorhanden ist. Dies beinhaltet Aspekte wie spezielle, kindgerechte, diagnostische Verfahren, Intensivkapazitäten, Interdisziplinarität und Hilfsangebote wie Sozialarbeiter beziehungsweise Psychologen. Auch wenn solche Kriterien mittlerweile formuliert wurden, gibt es für die Kinderchirurgie nach wie vor keine Instanz, die ein kinderchirurgisches Zentrum definiert, geschweige denn eine belastbare Zertifizierung durchführt. Außerdem gibt es keine geregelte Finanzierung für zertifizierte Zentren. Dieses Thema liegt seit 2013 beim Gesetzgeber und wurde bis dato noch nicht verabschiedet.

Grund für die Bildung von ERN war die Feststellung, dass gemäß Artikel 24 der UN-Kinderrechtskonvention die Vertragsstaaten erstens das Recht des Kindes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit sowie auf Inanspruchnahme von Einrichtungen zur Behandlung von Krankheiten und zur Wiederherstellung der Gesundheit anerkennen und sich bemühen, sicherzustellen, dass keinem Kind das Recht auf Zugang zu derartigen Gesundheitsdiensten vorenthalten wird. Und zweitens: Die Vertragsstaaten sich bemühen, die volle Verwirklichung dieses Rechts sicherzustellen.

Ziel war es, europaweit Kliniken mit einer besonderen Expertise in den jeweiligen SE zu vernetzen, um so den Informationsaustausch zu vereinfachen und damit sicherzustellen, dass die besondere Expertise in ganz Europa zur Verfügung steht. In insgesamt 24 Netzwerken, die wiederum untereinander verlinkt sind, werden die circa 6 000 SE abgebildet. Zur Vernetzung wurde die IT-Plattform Clinical Patient Management System (CPMS) geschaffen, die virtuelle Boards und damit den Informationsaustausch ermöglicht. Es werden innerhalb der einzelnen Netzwerke Guidelines erarbeitet, die die Diagnostik und Therapie europaweit vereinheitlichen sollen. Schließlich bieten die ERN eine Webseite, die es den Betroffenen und Behandlern ermöglicht, Zentren mit besonderer Expertise zu identifizieren. Für Kinder gibt es insgesamt vier ERN.

Ein gutes Beispiel der erfolgreichen europäischen Zusammenarbeit sind die entsprechenden Leitlinien und Empfehlungen zur Behandlung der angeborenen Zwerchfellhernien und der Gallengangsfehlbildungen, insbesondere der Gallengangsatresie. Diese führten dazu, dass zumindest die schweren Fälle zentralisiert wurden, was zu einer deutlichen Verbesserung der Prognose und einer Abnahme schwerwiegender Komplikationen und Folgeerkrankungen führt.

Um die Nachsorge zu verbessern, sind die ERN ebenfalls maßgebend. Ein hilfreiches Mittel ist die „Standardized Clinical Assessment and Management Plan“-(SCAMP-)Methode, die ursprünglich in der Kinderkardiologie zur strukturierten Nachsorge entwickelt und derzeit für weitere angeborene Fehlbildungen angewendet wird.

Insgesamt muss festgestellt werden, dass die Zentralisierung und somit die Umsetzung von Mindestmengen auch in Deutschland zu einer Verbesserung der Versorgung von angeborenen Fehlbildungen führen wird. Voraussetzung dazu ist, dass die jeweiligen Zentren auch entsprechend den Notwendigkeiten personell und finanziell ausgestattet werden, sodass sie sich nicht nur um die Patienten, sondern ebenfalls um die notwendigen Register, die strukturierte Nachsorge und insbesondere die Versorgungs- und Grundlagenforschung kümmern können.

Wessel L. Europäische Referenznetzwerke für Seltene Erkrankungen und die Zentralisierung in Deutschland. Passion Chirurgie. 2018 Juni, 8(06): Artikel 05_03.

 

Autor des Artikels

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Prof. Dr. Lucas Wessel

DirektorFakultät für Medizin Mannheim der Universität HeidelbergKinderchirurgische Klinik, Universitätsklinik MannheimTheodor-Kutzer-Ufer 1-368167Mannheim

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