01.10.2019 Arbeitsbedingungen
Entscheidungen treffen – mit Erfahrung und Struktur, Mut und Empathie
Dr. med. Jörg von Rechenberg ist Oberarzt der Allgemein- und Viszeralchirurgie im Klinikum Wolfsburg. Der Ansprechpartner und Entscheider für die Belange der Patienten der chirurgischen Abteilung ist zuständig für die operative Intensivstation sowie für Notfallpatienten inklusive der operativen Versorgung. Der 61-jährige Chirurg arbeitet seit über 30 Jahren im Klinikum Wolfsburg und trifft täglich Entscheidungen, bei denen es auch um Leben und Tod geht.
Würden Sie sich als besonders entscheidungsfreudigen Menschen bezeichnen?
JvR: Ich denke ja, wenn es sich auf zeitnah zu treffende Entscheidungen bezieht. Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich mir durch meine langjährige Berufserfahrung ein strukturiertes und konstruktives Denken angeeignet habe, mit dem ich mich stark auf spezifische Problemlagen fokussieren kann. Dazu kommt eine hohe Sensibilität für besondere Situationen, in denen ich mich sehr schnell entscheiden muss.
Was genau stellt Sie vor schwierigere Entscheidungen, und wie gehen Sie damit um?
JvR: Es wird komplizierter, wenn wir es mit spezifischen Befunden bzw. einer Vielzahl an Befunden zu tun haben, die nicht kongruent sind. Auch die Therapieentscheidungen im Rahmen der Intensivtherapie sind in der Regel schwieriger. Es gibt zwar gewisse Standards, wenn sich aber der Verlauf verschlechtert, dann erschwert das die Entscheidungslage. Ich empfinde es als vorteilhaft, dass wir viele dieser Entscheidungen im Team treffen, beispielsweise in täglichen Besprechungen. Wenn ich zeitnah Entscheidungen treffen muss, laufen bei mir im Hintergrund innere Checklisten ab, die ich gedanklich durchgehe und bestimmte Reaktionen auf mögliche Abläufe, Komplikationen, Risiken etc. durchspiele. Ich setze darauf, dass ich mich einerseits auf die Faktenlage verlassen kann und dass ich diese richtig interpretiere. Andererseits baue ich auch auf meine Erfahrung. Wenn es etwa bei einer OP zu einer sehr kritischen Situation kommt, dann versuche ich erst mal den Druck herauszunehmen, Ruhe zu bewahren, Zeit zu gewinnen, um dann wohlüberlegte und mit dem Team abgestimmte Lösungen zu finden.
Wie gehen Sie damit um, wenn sich eine Entscheidung im Nachhinein als nicht richtig herausstellt?
JvR: Grundsätzlich geht es mir immer dann nicht gut, wenn es meinen Patienten nicht gut geht. Ich überlege, was ich hätte anders machen können: Wo hätte ich Befunde eventuell anders bewerten müssen, sodass ich möglicherweise zu einer alternativen Entscheidung gekommen wäre. Auch aus diesem Grund empfinde ich es als extrem wichtig, bereits im Vorfeld vermeintliche Fehlerquellen auszuschließen. Deshalb lege ich u. a. sehr viel Wert auf korrekte Arztbriefe und schaue mir Befunde möglichst selbst an. Darüber hinaus erläutern wir in speziellen Konferenzen prinzipiell alle Fälle, in denen Komplikationen aufgetreten sind. Jeder von uns kann aus guten wie aus schlechten Entscheidungen lernen, wenn wir diese reflektieren.
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Wie unterstützen Sie Patienten und Angehörige bei deren Entscheidungsfindung?
JvR: Gerade, wenn es um Entscheidungen am Lebensende eines Menschen geht, ist besonders viel Empathie und Sensibilität gefragt. Meines Erachtens sind hier mehrere Gespräche notwendig, um Vertrauen aufzubauen. Insbesondere auf der Intensivstation haben wir sehr gute Erfahrungen damit gemacht, dass Ärzte, Patienten und Angehörige häufig und regelmäßig im Gespräch bleiben. Ich ermuntere auch junge Kollegen dazu, an diesen Gesprächen teilzunehmen, damit sie Erfahrungen sammeln können. Es ist wichtig, das Für und Wider einer Entscheidung nachvollziehbar zu kommunizieren sowie tragfähige Empfehlungen zu geben, sodass sich Patienten und Angehörige nie alleine gelassen fühlen. Erst recht dann nicht, wenn diese selbst eine schwerwiegende Entscheidung treffen müssen – etwa im Zusammenhang mit lebenserhaltenden Maßnahmen.
Welche Rolle spielt für Sie Verantwortung?
JvR: Wenn ich eine Entscheidung fälle, übernehme ich dafür natürlich auch die Verantwortung und ermutige auch junge Kollegen dazu, dies gerne zu dokumentieren. Selbstverständlich erwarte ich dann auch, dass mir alle Fakten oder Befunde genannt wurden, bzw. dass meine Entscheidung auch so, wie von mir getroffen, umgesetzt wird. Ich mag es dagegen absolut nicht, wenn sich jemand seiner Verantwortung entzieht und dafür ein anderer zu Unrecht geradestehen muss. Das geht auf Kosten des gegenseitigen Vertrauens und behindert eine vertrauensvolle Zusammenarbeit. Grundsätzlich habe ich ein großes Problem damit, wenn Entscheidungsträger, die aufgrund ihrer Position bestimmte Entscheidungen fällen sollten, dies unterlassen. Gleichzeitig stehe ich dafür, dass Entscheidungen transparent und für andere nachvollziehbar sind.
Was würden Sie als eine mutige Entscheidung bezeichnen?
JvR: Es ist mutig, wenn man sich dazu entschließt, die Entscheidung einer übergeordneten Instanz, gegebenenfalls also auch die eines Oberarztes oder Chefarztes, infrage zu stellen. Dabei finde ich es wichtig, seine Einwände bereits im Vorfeld zu kommunizieren, möglicherweise auf eine zweite Meinung zu drängen und die entsprechenden Gegenargumente offen anzusprechen. In Gesprächen mit jungen Kollegen betone ich, wie wichtig es ist, im Zweifel Befunde oder Anordnungen zum Wohle des uns anvertrauten Patienten zu hinterfragen. Die Medizin ist so komplex, dass jeder von uns einmal etwas übersehen kann.
Kann man gute Entscheidungen trainieren, und was tun Sie, um sich auch in diesem Feld noch weiterzuentwickeln?
JvR: Sicherlich kann sich jeder täglich darin üben, strukturiert zu arbeiten und sehr akribisch auch auf die Details großen Wert zu legen. Selbstverständlich bringt uns auch eine regelmäßige Fortbildung weiter, weil wir damit unseren Horizont erweitern. Auch wenn der heutige Klinikbetrieb es nicht unbedingt einfach macht, plädiere ich dafür, regelmäßig über den Tellerrand zu schauen und sich auch jenseits des eigenen Fachgebiets zu informieren. Wer gute Entscheidungen treffen will, sollte auch auf einen weitgefächerten Wissensschatz vertrauen können.
Was könnte sich aus Ihrer Sicht im Umfeld von Entscheidungen grundsätzlich noch verbessern?
JvR: Auch, wenn es bereits Ansätze gibt, würde ich mir für eine Reihe von Entscheidungen wünschen, dass schon im Vorfeld Mitarbeiter von der Basis mit einbezogen würden. Zumal diese die getroffenen Entscheidungen am Ende umsetzen müssen. Offensichtlich werden immer noch zu viele Entscheidungen von Menschen getroffen, die teilweise die Abläufe, um die es geht, kaum kennen. Auch die Frage des Respekts und der Wertschätzung gegenüber Mitarbeitern halte ich für ein wichtiges Thema. In Zeiten des Fachkräftemangels kann Wertschätzung unter anderem auch durch adäquate Bezahlung erfolgen. Generell halte ich im Zusammenhang mit Entscheidungen eine gute Kommunikation für eminent wichtig. Wir sind aufgefordert, mit unseren Patienten sehr viel zu kommunizieren, gerade auch in Bezug auf Entscheidungen. Diese Einstellung vermisse ich teilweise in der Wirtschaft. Hier fehlt es mir aus Kundensicht oft an persönlichen Ansprechpartnern. Dabei macht es Kommunikation doch erst möglich, aufgrund konkreter und individueller Informationen überhaupt eine adäquate Entscheidung treffen zu können.
Mit freundlicher Genehmigung der WMG Wolfsburg Wirtschaft und Marketing GmbH sowie der MADSACK Medien Ostniedersachsen. Dieses Interview erschien in der Sommerausgabe 2019 des Wirtschaftsmagazins „Wolfsburg Plus“. Das Interview führte Thomas Beyer.
von Rechenberg J: Entscheidungen treffen – mit Erfahrung und Struktur, Mut und Empathie. Passion Chirurgie. 2019 Oktober, 9(10): Artikel 04_05.
Autor des Artikels
Dr. med. Jörg Freiherr von Rechenberg
Zentrum für Allgemein-, Viszeral- und GefäßchirurgieKlinikum der Stadt WolfsburgSauerbruchstr. 738440Wolfsburg kontaktierenWeitere Artikel zum Thema
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