Die Realität sieht allerdings anders aus. Drei Viertel der weltweit getätigten Operationen werden an einem Drittel der Weltbevölkerung durchgeführt. Gegenwärtig haben 5 Milliarden Menschen keinen Zugang zu adäquater und bezahlbarer chirurgischer und anästhesiologischer Versorgung. Mangelnde chirurgische Versorgung ist somit eine der wesentlichen Ursachen für unzureichende globale Gesundheit. Schätzungen für das Jahr 2010 gehen von annährend 17 Millionen Toten aus, die an grundsätzlich zu therapierenden chirurgischen Erkrankungen verstorben sind. Unfälle und deren Folgeerkrankungen sind hier die führenden Ursachen. Etwa 90 % der unfallbedingten Todesfälle und dauerhaft körperlichen Schäden werden in Ländern mit niedrigem und mittlerem Pro-Kopf-Einkommen registriert. Hier ist die Wahrscheinlichkeit an Unfallfolgen zu versterben sechs Mal höher als bei uns. Der Fachkräftemangel und die ökonomische Situation der Patienten in diesen Ländern spielen hierbei eine zentrale Rolle.
Was können wir als Chirurgen hier in einem westlichen Industriestaat mit allen Möglichkeiten einer umfassenden medizinischen Versorgung tun? Zuallererst wollen die Gestalter dieses Themenheftes an die Verantwortung der einzelnen Chirurginnen und Chirurgen an das Konzept der globalen Gesundheit erinnern und auch dafür werben. Aber es geht um mehr. Abseits der täglichen Herausforderungen in Klinik und Praxis, die zunehmend von ökonomischen Kennzahlen geprägt sind, bleibt der Beruf als Chirurgin und Chirurg eine der vielfältigsten, extrem fordernden und damit befriedigenden Tätigkeiten in der Medizin. In keinem Fachbereich der Medizin ist die unmittelbare Wirkung der Arbeit so sichtbar, kann mit dem „Handwerk“ so direkt Einfluss auf das Leben und die Lebensqualität genommen werden. Und das weltweit, denn die Grundlagen unseres Faches, der komplizierte Bauplan des menschlichen Körpers, sind unabhängig von jeder technischen Entwicklung in der Chirurgie überall identisch. Der Chirurg kann mit seiner Erfahrung, seinen Händen und einfachsten technischen Mitteln Menschen in der ganzen Welt helfen – Menschen, die wie Zahlen zeigen, diese chirurgische Versorgung und humanitäre Zuwendung dringend benötigen.
Und auch das soll dieses Themenheft zeigen: Die Hürden für einen aktiven Einstieg in die chirurgischen Hilfsprogramme sind nicht unüberwindbar. Die Programme der einzelnen Organisationen, die sich hier vorstellen, richten sich nicht zuletzt an den chirurgischen Nachwuchs, der bereit ist, ein Stück die eigene Komfortzone zu verlassen und spektakuläre Erfahrungen in einer völlig anderen Welt zu sammeln. Auch diese Befriedigung kann Teil des chirurgischen Berufes sein.
Es würde die Autoren und Herausgeber freuen, wenn sich die Leser dieser Beiträge – wenn auch nur für einen kurzen Moment – in die chirurgische Welt der Entwicklungsländer entführen ließen.
[1] H. Mothes, M. Gruendl. Global Health Care. Der Chirurg 2018, 89:172-177