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„Dieses Nichtwissen und Unvermögen, das kommt praktisch nicht vor – bei Chirurgen schon gar nicht.“
(Interviewpartner Nr. 20, Chefarzt der Chirurgie)

Spiegelt dieses Zitat die Wirklichkeit der Chirurginnen und Chirurgen (der besseren Lesbarkeit halber, wird nachfolgend das männliche Geschlecht genutzt) wider? In der Regel wird Nichtwissen nur selten angesprochen, weil es (nicht nur) unter den Medizinern ein äußerst sensibles Thema ist. Bei genauerer Betrachtung stellt man jedoch schnell fest, dass Ärzte zwar über enormes Fachwissen verfügen, aber tagtäglich Entscheidungen unter der Bedingung unvollständiger Informationen treffen und daher Strategien entwickeln müssen, mit ihrem eigenen und dem Nichtwissen ihrer Kollegen umzugehen. Aber wie gehen Ärzte im Krankenhaus mit ihrem Nichtwissen um? Wovon hängen die gewählten Strategien ab? Die Beantwortung genau dieser Fragen steht im Mittelpunkt unseres Forschungsprojekts, das derzeit von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird.

Neben dem ironisch gemeinten Eingangszitat wurde uns in den 43 Interviews, die wir mit Krankenhausärzten durchgeführt haben, deutlich gemacht, dass der Anspruch, als Arzt alles wissen zu wollen, erstens nicht realistisch ist und zweitens das von der Gesellschaft zugewiesene Bild von den (Halb-)Göttern in Weiß nicht (mehr) den eigenen Vorstellungen entspricht. Dennoch haben uns viele der interviewten Ärzte auf die teilweise starren strukturellen Bedingungen und Prozesse im Krankenhausalltag hingewiesen. Gerade junge Ärzte werden mit historisch gewachsenen Strukturen konfrontiert, die einem „Trägheitsmoment“ unterliegen, und nur schwer veränderbar sind [3]. So meinte der oben zitierte Chefarzt direkt zu Beginn unseres Interviews:

“Das erste Mal ist mir das aufgefallen, als ich als frisch gebackener Arzt auf meiner ersten Station war. Wenn man frisch von der Uni kommt, kennt man sich mit manchen Grundlagen schon wieder besser aus, als jemand, der seit zehn Jahren nur sein Fach macht. Und wenn ich dann Dinge geändert haben wollte, sagten die Schwestern immer: Das haben wir noch nie so gemacht. Ich habe dann verzweifelt versucht ihnen zu erklären, warum es so viel besser ist und lief natürlich immer wieder vor die Wand. Ich habe das damals überhaupt nicht kapiert!“

Das Zitat zeigt auch, dass sich neues Wissen im Krankenhausalltag aufgrund von Beharrungstendenzen als unüberwindbare Ignoranz offenbaren kann. Nichtwissen umfasst somit mehr als die reine Abwesenheit von Wissen. Vielmehr kann Nichtwissen in vier verschiedene Dimensionen [1] (siehe auch Artikel ‚Nichtwissen im chirurgischen Krankenhausalltag’ in dieser Ausgabe) unterteilt werden, die – nebenbei bemerkt – nicht immer mit einer negativen Konnotation verbunden sind:

  1. Nichtwissen, von dem man weiß, dass man es nicht weiß (bekanntes Nichtwissen);
  2. Nichtwissen, von dem man (noch) nicht weiß, dass man es nicht weiß (unbekanntes Nichtwissen);
  3. Wissen, von dem man nicht weiß, dass man es weiß (unbekanntes Wissen) und schließlich
  4. Wissen, das man anderen vorenthält oder nicht akzeptiert (bekanntes Wissen als scheinbares Nichtwissen). Nichtwissen ist somit nicht gleich Nichtwissen!

Im Rahmen des Projekts wurden nicht nur unterschiedliche Dimensionen des Nichtwissens und deren jeweiligen Umgangsstrategien erforscht, sondern zusätzlich auch organisationale Bedingungen und Prozesse im Krankenhaus genauer betrachtet, um mögliche Unterschiede aufzudecken. Mit Hilfe der Facharztverbände wurden im Frühjahr 2012 alle im Krankenhaus tätigen Verbandsmitglieder der Chirurgie, der Anästhesiologie, Inneren Medizin und Pathologie zu einer Online-Befragung eingeladen.

An dieser Stelle möchten wir uns beim BDC für die Unterstützung herzlich bedanken. Gleiches gilt für alle Chirurgen, die den Fragebogen vollständig ausgefüllt haben. Die Ergebnisse dieser ersten umfangreichen Erhebung werden in diesem Schwerpunktheft vorgestellt.

Literatur

[1] St. Pierre, Michael/Hofinger, Gesine/Buerschaper Cornelius (2011): Notfallmanagement. Human Factors und Patientensicherheit in der Akutmedizin. Springer Verlag. Berlin Heidelberg.

[2] Wilkesmann, Maximiliane (2010): Der professionelle Umgang mit Nichtwissen. Einflussfaktoren auf der individuellen, organisationalen und organisationsübergreifenden Ebene. Discussion Paper 01-2010 des Zentrums für Weiterbildung der TU Dortmund.

[3] vgl. St. Pierre et al. 2011: 239

Wilkesmann M. / Jang S. R. / Roesner B. Dem Nichtwissen auf der Spur. Passion Chirurgie. 2013 März; 3(03): Artikel 01.

Autoren des Artikels

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Prof. Dr. Maximiliane Wilkesmann

Juniorprofessur SoziologieWirtschafts- und Sozialwissenschaftliche FakultätTechnische Universität DortmundOtto-Hahn-Str. 644221Dortmund kontaktieren
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So Rim Jang

Wissenschaftliche MitarbeiterinWirtschafts- und Sozialwissenschaftliche FakultätTechnische Universität DortmundOtto-Hahn-Str. 644221Dortmund kontaktieren
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Björn Roesner

Wissenschaftlicher MitarbeiterWirtschafts- und Sozialwissenschaftliche FakultätTechnische Universität DortmundOtto-Hahn-Str. 644221Dortmund kontaktieren

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