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Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen hat erstmals in seiner mehr als dreißigjährigen Geschichte vor offizieller Übergabe eines Gutachtens einen Einblick in seine laufende Gutachtenarbeit gewährt: Im Rahmen eines Werkstattgesprächs wurden in Berlin Analysen zum Status quo sowie Empfehlungen zur Zukunft der Notfallversorgung in Deutschland vorgestellt. Die unerwartet hohe Zahl von über 200 Teilnehmern aus den Bereichen Gesundheitspolitik, Gesundheitsversorgung, Selbstverwaltung und Gesundheitsforschung zeigt, dass Reformbedarf in der Notfallversorgung gesehen wird.

An der Diskussion der Vorschläge des Sachverständigenrats nahmen neben den Ratsmitgliedern teil: Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe, MdB; Dr. Andreas Gassen, Vorstands-vorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV); Georg Baum, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG); Johann-Magnus von Stackelberg, stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Spitzenverbands der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV-SV) sowie Prof. Dr. André Gries von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Experten, Praktiker und Verbandsvertreter im Publikum brachten sich gezielt mit Fragen und Anregungen in die Diskussion ein.

Zur Beurteilung der aktuellen Notfallversorgung hat der Sachverständigenrat zahlreiche nationale und internationale Beispiele und Konzepte verschiedener Institutionen bzw. Organisationen herangezogen. Vier Ratsmitglieder hatten sich im Vorfeld zudem in Dänemark über die Umsetzung der weitreichenden Reformen der dortigen Krankenhaus- und Notfallversorgung informiert.

In Deutschland werden Notfälle derzeit in drei voneinander getrennten Bereichen, dem ärztlichen Bereitschaftsdienst (ÄBD), dem Rettungsdienst und den Klinikambulanzen behandelt. Besonders auffällig sind stark steigende Inanspruchnahmen in Klinikambulanzen bzw. Notaufnahmen mit langen Wartezeiten für Patienten, ebenfalls stark steigende Transportzahlen im Rettungsdienst sowie generell eine häufig nicht bedarfsgerechte Notfallversorgung auf höhe-ren Versorgungsebenen. Als Folge kommt es zur Überlastung und Unzufriedenheit des Per-sonals sowie vermeidbaren Kosten, auch im ÄBD der niedergelassenen Ärzte.

Der Rat empfiehlt die Schaffung voll integrierter, regionaler Leitstellen, die über eine bundeseinheitliche Rufnummer erreichbar sind und je nach Patientenanliegen die individuell beste Versorgungsoption wählen. Das für viele Patienten unverständliche Nebeneinander verschiedener Rufnummern (vor allem 112 und 116117) soll damit zukünftig entfallen. Die integrierten Leitstellen können eine telefonische Beratung durch geschultes Personal sowie auch durch erfahrene Ärzte anbieten. Je nach Bedarf erfolgt eine direkte Terminvergabe in Praxen nieder-gelassener Ärzte oder in integrierten Notfallzentren (INZ). Auch Hausbesuche des ärztlichen Bereitschaftsdienstes und Rettungseinsätze werden hier koordiniert. Wichtig ist dem Rat die nahtlose Verzahnung der bislang drei getrennten Bereiche und die damit einhergehende Bil-dung von Zentren. INZ sollen möglichst auch ambulante kinder- und augenärztliche Angebote sowie psychiatrische Kriseninterventionsdienste, idealerweise auch mit Zugang zu spezialisierten stationären Kapazitäten, etwa zur Behandlung von Schlaganfällen, Herzinfarkten oder Polytraumen, umfassen.

Integrierte Leitstellen und INZ können Patienten in einem nach Schweregraden und Dringlichkeit gestuften Versorgungskonzept gemeinsam eine bestmögliche Erreichbarkeit und eine gezielte Steuerung zu bedarfsgerechten Strukturen anbieten. IT-gestützte Versorgungspfade, eine einheitliche sektorenübergreifende Dokumentation für alle Beteiligten sowie persönliche, mehrsprachige Patienteninformationen sollen flankierend genutzt werden. Die Vergabe eines individuellen Termins in einem konkreten INZ soll daher nur bei vorherigem Anruf bei einer integrierten Leitstelle erfolgen. Patienten, die durch Selbstüberweisung ohne vorherige telefonische Abklärung kommen und bei denen im Rahmen der orientierenden Eingangsuntersuchung keine Dringlichkeit festgestellt wird, müssen ggf. längere Wartezeiten in Kauf nehmen.

Die neu geschaffenen sektorenübergreifenden INZ sollen an bestehenden Kliniken, aber als eigenständige organisatorisch-wirtschaftliche Einheit angesiedelt werden. Als Träger können Kassenärztliche Vereinigungen und Kliniken gemeinsam agieren. Zur Vermeidung unangemessener Anreize zur stationären Aufnahme sollten diese jedoch von Kassenärztlichen Vereinigungen betrieben werden. Die Länder sollen die INZ-Standorte, ggf. auch durch Ausschreibungen, festlegen und so die Balance zwischen notwendiger Zentralisierung und Flächendeckung gewährleisten. Die Finanzierung soll durch einen extrabudgetären, aus ambulanten und stationären Budgets bereinigten, separaten Finanzierungstopf für sektorenübergreifende Notfallversorgung erfolgen. Die Vergütung soll vereinfacht werden und sieht eine 3-stufige Grund-pauschale für alle Vorhaltekosten nach Kapazität und Ausstattung des Notfallzentrums vor.

Unabhängig von Fallschwere und Ort der Leistungserbringung soll eine Vergütung je Fall erfolgen. Ein Zuschlag soll nur für eine Beobachtung über Nacht gezahlt werden. Der Rettungsdienst soll als eigenständiger Leistungsbereich im SGB V etabliert werden. Zur Beseitigung des Fehlanreizes, Patienten unnötig ins Krankenhaus zu bringen, soll die medizinische Leistung und nicht wie bisher nur die Transportleistung abgerechnet werden.

Zur Entlastung der Notfalleinrichtungen sollen die Ausweitung der Sprechzeiten niedergelassener Hausärzte sowie Samstag- und Abendsprechstunden in der vertragsärztlichen Versorgung besonders gefördert werden. Multimediale Aufklärungskampagnen sowie Informationsportale und Notfall-Apps sollen die Bevölkerung über die Angebote der gestuften Notfallversorgung in Deutschland aufklären und bei der Nutzung unterstützen.

Der Ratsvorsitzende, Prof. Ferdinand Gerlach: „Ich freue mich über das große Interesse, das unser Werkstattgespräch gefunden hat, und über die Fragen und Anregungen, die wir heute zu unseren Vorschlägen erhalten haben. Wir werden diese Hinweise auswerten und in unserem Gutachten berücksichtigen. Ziel ist eine bürgernähere, bedarfsgerechtere, qualitativ bes-sere und zugleich auch kosteneffektivere Notfallversorgung. Die Ratsmitglieder sind vorsichtig optimistisch, dass uns genau das in Deutschland auch gelingen wird.“

Die endgültigen Empfehlungen zur Zukunft der Notfallversorgung will der Rat im 2. Quartal 2018 im Rahmen eines Gutachtens zur bedarfsgerechten Steuerung des Angebots und der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen dem Bundesministerium für Gesundheit übergeben. Sie werden dann auch dem Bundestag und dem Bundesrat übermittelt.

Die Übersichtsgrafik zur vorgeschlagenen integrierten Notfallversorgung sowie alle Präsentationen zum Werkstattgespräch sind online unter www.svr-gesundheit.de verfügbar.

Quelle: Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, 53107 Bonn, www.svr-gesundheit.de, 07.09.2017

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