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Die Zuweisungsmechanismen des milliardenschweren Risikostrukturausgleichs (RSA) gehören seit Jahren zu den umstrittensten Punkten unter den Krankenkassen. In einer vorab veröffentlichten Zusammenfassung des Sondergutachtens zum RSA gehen die Autoren auf dessen Zielgenauigkeit, aktuelle Fehlentwicklungen und auf konkrete Maßnahmen zur Anpassung des Finanzausgleichs ein. Teil dessen sind auch Ausführungen zum Wettbewerb und zur gegenseitigen Haftung der Krankenkassen.

Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) hat den Wissenschaftlichen Beirat zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs beim Bundesversicherungsamt (BVA) mit Erlass vom 13.12.2016 beauftragt, in einem Sondergutachten die Wirkungen des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (Morbi-RSA) unter Berücksichtigung der bisher vorliegenden RSA-Jahresausgleiche zu überprüfen, die Folgen relevanter Vorschläge zur Veränderung des Morbi-RSA empirisch abzuschätzen und mögliche gegenseitige Abhängigkeiten verschiedener Ansätze zu analysieren.

Hintergrund
Risikostrukturausgleich - RSA/Morbi-RSA

Zu den zentralen Aussagen des Sondergutachtens gehören:

Wettbewerbsziele verfehlt

Die Vermeidung von Risikoselektion stellt die zentrale Funktion des Morbi-RSA dar. Sie ist Voraussetzung für einen fairen Wettbewerb der Krankenkassen um Versicherte. Bisher gelang es nur unzureichend, den Wettbewerb als Instrument zur Verbesserung der Versorgungsqualität zu stimulieren; vielmehr dominiere der Wettbewerb um möglichst geringe Zusatzbeiträge. Eine isolierte Reform des RSA könne das notwendige wettbewerbliche Umfeld alleine nicht schaffen. Vielmehr sei hierfür eine ordnungspolitische Rahmenordnung notwendig.

Dabei sei auch zu beachten, dass eine Marktkonzentration die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs um Qualität beeinträchtige. Diese sei jedoch bereits in allen Bundesländern seit Einführung des RSA im Jahr 2009 zu beobachten. Den Markt in Sachsen und Thüringen bewertet der Beirat sogar als “hochkonzentriert”.

Individualansatz richtig

Als zentralen Parameter zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen werten die Autoren die Zielgenauigkeit der Zuweisungen auf Individualebene, d. h. dem Ausgleich von systematischen Ausgaberisiken je Versicherten, je Versichertengruppe und Krankenkasse. Davon abweichenden Reformforderungen, wie z. B. in Richtung pauschaler Verringerung der Unterschiede in den Deckungsquoten nach Kassenarten, erteilt der Beirat eine Absage.

Einheitliche Aufsicht der Kassen notwendig

Für unerlässlich im Sinne der Funktionsweise des RSA beschreibt das Gutachten die Notwendigkeit einer bundeseinheitlichen Prüfung der Regelungen zur Dokumentation von Diagnosen. Im Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz (HHVG) hatte der Gesetzgeber zuletzt klargestellt, dass eine zusätzliche Vergütung an Vertragsärzte für die Vergabe und Dokumentation von Diagnosen unzulässig ist. Entsprechende Regelungen innerhalb von Selektivverträgen hatten zuvor den Verdacht auf Manipulationen geschürt (vgl. “Upcoding” – Manipulation von Diagnosen). Auch in anderen Wettbewerbsfeldern (z. B. bei Satzungsgenehmigungen zu Wahltarifen oder in der Finanzaufsicht) könne ein uneinheitliches Aufsichtshandeln zwischen Bund und Ländern, oder auch zwischen einzelnen Bundesländern, zu Wettbewerbsverzerrungen führen.

Haftung nach Kassenarten abschaffen

Da die Krankenkassen mit Ausnahme der Ortskrankenkassen auch innerhalb ihrer Kassenart in einem teils intensiven Wettbewerb zueinander stehen, wird die bisherige “Haftungskaskade” nicht länger als sachgemäß angesehen. Hiernach haftet zunächst die Kassenart für eine Schließung, Auflösung oder Insolvenz einer Krankenkasse und erst sekundär der GKV-Spitzenverband als Repräsentant aller Krankenkassen. Der Wissenschaftliche Beirat schlägt grundsätzlich vor, die Primärhaftung direkt dem GKV-Spitzenverband zu übertragen.

Bewertung des RSA auf Ebene der Einzelkassen

Eine weitere Konsequenz der zunehmenden Heterogenität der Risikostrukturen und Deckungssituationen innerhalb der Kassenarten ist, dass die Messung der Zielgenauigkeit des RSA auf Ebene der einzelnen Krankenkassen und nicht nach Kassenarten erfolgen muss. Die überwiegend auf Basis der Kassenarten von diesen im Vorfeld des Sondergutachtens eingebrachten Reformvorschläge begünstigten daher immer nur Teile der jeweiligen Kassenart, andere Teile würden hingegen belastet.

AOK verbessert Risikostruktur

Ein Kernpunkt der bisherigen Kritik am RSA ist die Begünstigung der Ortskrankenkassen durch höhere Deckungsquoten. Diese, so der Beirat, hätten sich durch eine verbesserte Risikostruktur herausgebildet. AOK und Bundesknappschaft wiesen demnach pro Kopf (auf den GKV-Durchschnitt normierte) Leistungsausgaben auf, die stärker als die ebenfalls (normierten) Zuweisungen gesunken sind. Hieraus resultiere eine Entwicklung steigender positiver Deckungsbeiträge. Bei den BKKn, IKKn und Ersatzkassen seien die (normierten) Leistungsausgaben dagegen stärker als die (normierten) Zuweisungen gestiegen – die relative Krankheitslast habe dadurch zugenommen. Gemessen an den Kassenarten hätten sich Deckungbeiträge und Deckungsquoten auseinander entwickelt.

“Kranke lohnen”-These ist falsch

Der verschiedentlich in diesem Zusammenhang vertretenen These, dass sich aufgrund der Morbiditätsorientierung “Kranke lohnen”, erteilt der Beirat eine Absage. Gemessen an den sieben im Sondergutachten berücksichtigen Ausgleichsjahren habe sich bestätigt, dass der RSA ohne Morbiditätsbezug sowohl auf Kassenebene als auch auf Ebene der Kassenarten weniger präzise ausgefallen wäre. Die Analyse der Entwicklung habe sogar gezeigt, dass Krankenkassen mit seit 2009 zunehmender Morbidität über die Jahre tendenziell leicht unterdeckt, Krankenkassen mit abnehmender Morbidität dagegen kontinuierlich leicht überdeckt sind.

“Upcoding” – Manipulation von Diagnosen

Die Anzahl gesicherter ambulanter Diagnosen je 100.000 Versicherte liegen bei der Bundesknappschaft und den AOKn am höchsten. Das prozentuale Wachstum entsprechender Diagnosen lag zwischen 2008 und 2015 jedoch bei den IKKn am höchsten, gefolgt von den BKKn und Ersatzkassen.  Bei einigen Diagnosen zeigten sich zwar nennenswerte Anstiege ab dem Zeitpunkt der Berücksichtigung im RSA, im Vergleich zur bevölkerungsbezogenen Diagnosehäufigkeit aus anderen Quellen (Epidemiologie) fanden sich jedoch keine Auffälligkeiten. Dennoch erscheine die Beeinflussung des Kodierverhaltens zumindest wahrscheinlich. Bei einzelnen Krankenkassen erwartet er Beirat für die Berichtsjahre 2013-2015 spürbare Korrektur- und Strafbeträge.

Trotz des Risikos der Manipulation rät der Beirat vom Verzicht auf die ambulanten Diagnosen im Morbi-RSA ab, da dieser zu einer Verschlechterung des Klassifikationsmodells führen würde. Letztlich würde die Manipulationsgefahr bei der ambulanten Diagnostik auch einem merklichen Anstieg der Überdeckung für gesunde Versicherte weichen, was in Folge die ebenfalls ungewollte Risikoselektion begünstige. Stattdessen empfehlen die Experten zur Abwehr von Manipulationen z. B. die konsequente Berücksichtigung von Arzneimitteln im Aufgreifalgorithmus sowie die Meldung der Operationen- und Prozedurschlüssel im ambulanten und stationären Sektor. Hinzu kommt der Vorschlag, dokumentierte Diagnosen innerhalb von Selektivverträgen von der Vergütung vollständig zu entkoppeln. Zur Schaffung von Transparenz sollten alle Selektivverträge in einem zentralen Register geführt werden. Weitere Maßnahmen wären die Einführung einheitlicher Kodierrichtlinien und eine Zertifizierung der Praxissoftware durch die KBV.

Hintergrund
Upcoding schadet Patienten
BVA droht Kassen mit Zwangsgeldern
LSG: AOK zahlt Millionen nach Einigung
TK kritisiert Fehlanreize zum "Upcoding"

“Vollmodell” statt 80 Krankheiten

Mit der Einführung des Morbi-RSA hat der Gesetzgeber die Zahl der zu berücksichtigenden Krankheiten auf mindestens 50 und maximal 80 begrenzt. Innerhalb einer solchen gesetzgeberischen Vorgabe rät der Beirat zum Beibehalt von mindestens 80 Krankheiten nach den bisherigen Auswahlkriterien. Das Verfahren sei im Vergleich zu gemachten Alternativvorschlägen am zielführendsten. Die eigentliche Empfehlung des Beirats sieht jedoch ein “Vollmodell” vor. Hierbei würde das gesamte Krankheitsspektrum erfasst. Die begrenzten personellen und zeitlichen Ressourcen würden für die Pflege des Vollmodells produktiver und zielführender genutzt als bei der jährlichen Krankheitsauswahl.

Berücksichtigung der Erwerbsminderung

Ein laut Beirat in jüngerer Zeit kritisch hinterfragtes Kriterium bei den Zuweisungen des RSA sind Versicherte mit einem Erwerbsminderungsstatus (EMGs). Das Gutachten stellt hierzu fest, dass sich durch die ersatzlose Streichung der EMG schwerwiegende Risikoselektionsanreize gegen Erwerbsminderungsrentner ergeben würden. Die vorhersagbare durchschnittliche Unterdeckung würde gut 1.100 Euro betragen. Neben der heutigen Abgrenzung der Altersgruppen der AMGs, welche zu einer Unterdeckung jüngerer Erwerbsminderungsrentner führe, zeige sich eine Überdeckung bei Erwerbsminderungsrentnern ohne chronische Erkrankung. Der Beirat schlägt deshalb vor, die Erwerbsminderung künftig als Merkmal für den Schweregrad einer Krankheit heranzuziehen, nicht mehr aber als eigenständiges Kriterium.

Hochrisikopool tendenziell nicht notwendig

Aufgrund der Forderung einiger Krankenkassen zur Wiedereinführung des 2009 abgeschafften Hochrisikopools hat sich der Beirat mit den Vor- und Nachteilen eines solchen Pools beschäftigt. Im Ergebnis bestünden in der heutigen Ausgestaltung des Morbi-RSA keine strukturellen Benachteiligungen von Krankenkassen mit hohem Anteil an Hochkostenversicherten. Nachteilig am Hochrisikopool wirke dagegen der hohe Administrations- und Kontrollaufwand, sowie der Umstand, dass – entgegen dem Verfahren im Morbi-RSA – die IST-Ausgaben zahlungsbegründend seien. Dies steigere den Anreiz zur Manipulation und senke gleichzeitig den Anreiz zum wirtschaftlichen Handeln. Der Beirat empfiehlt, eine entsprechende Datengrundlage zu schaffen, um die Wirkung eines solchen Pools – insbesondere auch in einem “Vollmodell” des Morbi-RSA prüfen zu können. Zur Reduzierung von Risikoselektionsanreizen empfehlen die Experten jedoch vorrangig die Weiterentwicklung des Klassifikationssystems mit stärkerer Differenzierung der Risikogruppen.

Überdeckungen bei Multimorbidität

Im bestehenden RSA sind Versicherte mit Multimorbidität teils deutlich durch die Zuweisungen überdeckt. Daher hat sich der Wissenschaftliche Beirat mit den möglichen Ursachen von Unter- und Überdeckungen in Abhängigkeit von Alter und Zahl der Morbiditätsgruppen (HMGs) sowie Möglichkeiten einer diesbezüglichen Verbesserung des Zuweisungsmodells befasst. Ein Weg zur Verbesserung der Zielgenauigkeit sei die Interaktion zwischen Alter und Morbiditätsgruppen. Der Beirat empfiehlt, das Thema in künftigen Überarbeitungszyklen des RSA-Klassifikationsmodells erneut zu diskutieren.

Regionalkomponente

Um wettbewerbliche Verzerrungen zwischen den Krankenkassen aufgrund regionaler Unterschiede in der Kosten- und Versorgungssituation zu vermeiden, wird in jüngerer Zeit die Aufnahme einer Regionalkomponente in den Morbi-RSA vorgeschlagen. Diese würde die vom Bundesdurchschnitt abweichenden regionalen Kostenniveaus ausgleichen, sodass insoweit keine regionalen Unter- und Überdeckungen verblieben. Kritiker bemängeln allerdings, dass die Finanzströme des Morbi-RSA in kostenintensive Gebiete geleitet und die strukturellen Unterschiede damit zementiert würden. Eine Alternative sei die regionale Differenzierung des Zusatzbeitrags. Im Ergebnis müssten Kassen ihren Mehrbedarf in kostenintensiven Gebieten (vor allem Ballungsräume) über höhere Zusatzbeiträge finanzieren. Der Beirat wird das Thema in einem bereits vom BMG beauftragten Folgegutachten aufgreifen.

Zuweisungsbremse Prävention

Ein Spannungsfeld innerhalb der Zuweisungen nach Morbidität der Versicherten stellt die Prävention dar. Krankenkassen könnten durch Maßnahmen der Prävention langfristig an den eigenen Zuweisungen sägen, da die Versicherten gesünder werden. Um diese nicht gewollte Entwicklung zu verhindern, sehen Vorschläge zur Weiterentwicklung des RSA den Ausschluss von Krankheiten vor, die über Präventionsmaßnahmen beeinflussbar sind. Der Beirat lehnt dies jedoch ab. Es bestehe insbesondere die Gefahr, dass Versicherte mit Erkrankungen, die dann nicht mehr ausgleichsfähig sind, über schlechtere oder ganz fehlende Versorgungsangebote “ferngehalten” würden. Doch auch bei der Bewertung eines nachhaltigen Präventionserfolges sehen die Experten Probleme. So könne ein verbesserter Gesundheitszustand ggf. nicht einer konkreten Maßnahme oder im Zuge des Wahlrechts nicht einer konkreten Krankenkasse zugeordnet werden. Das Gremium verweist an dieser Stelle auf weiteren Forschungsbedarf.

Kritik
TK-Chef: RSA fördert Krankheit statt Prävention

Beirat gegen DMP-Pauschale

Disease-Management-Programme (DMP) wurden 2002 zuweisungsrelevant in den RSA aufgenommen. Erreicht werden sollte eine indirekte Morbiditätsorientierung sowie eine Qualitätsorientierung bei der Behandlung. Der Beirat sieht die privilegierte Stellung der DMP als RSA-relevante Versorgungsform kritisch. Aus wissenschaftlicher Sicht sei fragwürdig, warum diese, nicht aber andere, teilweise weiterreichende populationsorientierte Modelle mit einer erheblich stärkeren sektorenübergreifenden Orientierung, gefördert werden.

Hintergrund
Disease-Management-Programme (DMP)

Ausgleich der Verwaltungskosten

Die Krankenkassen erhalten aus dem Gesundheitsfonds Zuweisungen für ihre Verwaltungsausgaben. Seit 2009 greift hierbei ein Zuweisungsschlüssel, nachdem 50 Prozent der standardisierten Verwaltungsausgaben nach der Zahl der Versicherten und 50 Prozent nach der Morbidität der Versicherten ermittelt werden. Diskutiert wurden mehrere Alternativen, z. B. ein Modell zur Definition des Verwaltungsausgabenbedarfs nach Geschäftsprozessen. Keines der Modelle konnte jedoch den Beirat überzeugen, sodass dieser – auch mangels Alternativen – das Festhalten am bisherigen Schlüssel empfiehlt.

Der Wissenschaftliche Beirat spricht sich dafür aus, den Morbi-RSA – als zentralen technischen Kern der Wettbewerbsordnung der GKV – zukünftig regelmäßig systematisch zu evaluieren. Aufgrund des Aufwandes mit dem Sondergutachten wurde der Beirat für das Ausgleichsjahr 2018 von seiner Verpflichtung zur jährlichen Überprüfung der Krankheiten, die im Morbi-RSA zu berücksichtigen sind, entbunden.

Reaktionen der Krankenkassen auf das Sondergutachten
BKK Dachverband e.V.
Verband der Ersatzkassen e. V.
AOK-Bundesverband GbR
nnungskrankenkassen
Barmer Ersatzkasse - BEK
BKK Landesverband Bayern
Links zum Thema
Summary des Sondergutachtens zum Morbi-RSA
91 von 113 Kassen fordern schnelle Reform des Finanzausgleichs
SBK: Fehlanreize im Morbi-RSA führen zu steigenden Krankheitszahlen
Schieflage: GKV-Finanzergebnisse im 1. Halbjahr 2017
RSA-Reform: Kassen kritisieren AOK-Position als ungeeignet
SBK: Kodierung entscheidet über Finanzausstattung der Kassen
Barmer: GKV-System zunehmend instabil - Reform des RSA überfällig

Quelle: Krankenkassen direkt, Postfach 71 20, 53322 Bornheim, www.krankenkassen-direkt.de

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