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Guten Tag!
Ich kann in die Zukunft blicken. Sie können auch in die Zukunft blicken. Wir stellen dann gemeinsam fest, dass der Pessimist nur schwarz sieht und der Optimist nur die ideale Vision hat. Suchen wir den Realisten unter uns, dann steht der vor einem Problem, das wir gerne ignorieren – einem Nachwuchsproblem. Ich rede nicht direkt von der bundesdeutschen demographischen Entwicklung, nur indirekt. Ich rede von den Chirurgen von morgen, von den medizinischen Hochschulabsolventen und Absolventinnen, die zwar Interesse an der Chirurgie haben, sich aber aus Gründen der Work-Life-Balance – auch so ein neuartiges Modewort unserer Zeit – bewusst gegen einen Karriereweg in der Chirurgie entscheiden. Die persönliche Selbstverwirklichung wird nicht mehr nur im Beruf, sondern vor allem im Privatleben – im Freizeitwert gesehen. Das mag man nun beurteilen wie man möchte. Es zeigt sich jedoch im Lauf der letzten Jahre, dass es sich mehr und mehr um die Realität handelt. Da wir den Realisten unter uns ja nun schon gefunden haben, hat dieser das natürlich auch bereits ganz scharfsinnig erkannt und ist auf der Suche nach Lösungsansätzen – ganz pragmatisch.

Nicht nur Sie können in die Zukunft blicken, auch Professor H.-P. Bruch, der Präsident unseres Berufsverbandes der Deutschen Chirurgen, kann in die Zukunft blicken. Warum? Er ist den meisten von uns einen Schritt voraus. Ich könnte viele Gründe anführen, ein eher unwesentlicher ist, dass er kürzlich seinen Ruhestand angetreten hat – die meisten von uns Lesern werden noch beruflich aktiv sein. Die vielen weiteren Gründe mag sich jeder selbst überlegen.

Ich bin gebeten worden einen Artikel für eine Ausgabe der Passion Chirurgie zu schreiben, die, wenn Sie diese Zeitschrift jetzt in der Hand halten, den Titel tragen wird: „Das familienfreundliche Krankenhaus“. Sie können diese Zeitung ja sicherhaltshalber nochmal zuschlagen, ob es wirklich bei diesem Titel geblieben ist. Wenn Sie nun fortfahren beim Lesen, können Sie sich überlegen, dass das zum aktuellen Zeitpunkt nur ein Optimist geschrieben haben kann. Was wäre die Realität ohne Optimisten – um einige Visionen ärmer.

Sofern ich Sie nun noch nicht gelangweilt haben sollte, kann ich Ihnen ja auch noch den eigentlich gewünschten Titel dieses Artikels verraten: Fördermittel für Frauen in der Chirurgie – ich bin mir jedoch sicher, dass mindestens die Hälfte von Ihnen, dann nicht mal die Hälfte des Artikels gelesen hätte. Und ich denke auch nicht, dass eine sachliche Aufarbeitung dem eigentlichen Ziel dieser Ausgabe der Passion Chirurgie entsprochen hätte. Fördermittel für Frauen – spätestens an dieser Stelle fragt sich jeder in der Zeit der Gleichberechtigung Aufgewachsener: Was ist mit den Fördermitteln für die männlichen Kollegen in der Chirurgie? Haben wir berufspolitisch nicht ein generelles Nachwuchsproblem oder müssten womöglich die Männer jetzt nicht erst recht gefördert werden, wo jetzt fast mehr als 2/3 der Medizinstudierenden Frauen sind. Bleiben jetzt nicht kaum noch Männer für die Chirurgie? Und gerade die, die bleiben, müssten doch entsprechend gefördert werden. Die Männer unter den Medizinern von morgen werden schließlich eine Minderheit sein. Vielleicht sollte der Numerus clausus bei der Zulassung zum Medizinstudium in aktueller Form jetzt nur noch für potentielle Studentinnen gelten und 50 Prozent der Plätze an Männer vergeben werden, damit der chirurgische Nachwuchs sichergestellt ist. Das Männerproblem – letzteres also muss ein anderer Artikel dieser Zeitung sein.

Der Pragmatiker redet nicht lange von einem Problem – er packt es an, so wie der Name schon vermuten lässt – er ist eben pragmatisch, vergleichbar mit dem Lösungsansatz einer mathematischen Formel. Er erkennt ein Problem, entwickelt Lösungsansätze, realisiert sie und wenn die Gleichung entsprechend der mathematischen Kunst gelöst wurde, stimmt im Idealfall das Ergebnis. In diesem Fall könnte man wieder von Optimismus sprechen.

Wenn wir diese theoretische Überlegung auf die chirurgische Nachwuchsproblematik übertragen, haben wir damit das Problem erkannt. Ein Lösungsansatz ist der Titel dieser Zeitung, ein weiterer die Fördermittel für Frauen in der Chirurgie, unter anderem über Gender-Projekte. Das Problem an dieser Stelle ist jedoch, dass die mathematische Gleichung komplexer als angenommen ist und der Idealfall im Sinne eines Ergebnisses noch lange nicht erreicht ist. Das Problem ist erstens die Realität und sind zweitens wir selbst – was wir nicht gern hören. Veränderung braucht Zeit, manchmal auch einen Generationswechsel.

Wir belächeln Lösungsstrategien, die sich mit Gender-Projekten befassen, weil wir dahinter Gleichstellungsbeauftragte sehen, die Wert auf gendergerechte Sprache legen. Wir denken an Alice Schwarzer und denken an die Einführung des Frauenwahlrechtes 1918, denken vielleicht noch an Finnland als Vorreiter und merken dabei nicht, dass das eigentlich Gedanken von gestern sind – in wirklichen Gender-Projekten sollte es nicht mehr um entsprechende Formulierungen, sondern um Inhalte gehen, die die Gesellschaft voranbringen. Das Problem ist, dass die einen sich auf die Sprache versteifen und deswegen blind für die Inhalte werden, die anderen die Inhalte nicht ernst nehmen, weil sie es unter dem Stempel „Frauenproblematk“ abtun. Unterm Strich bleibt also der Optimist, der das Positive aus der Sache zieht, und sich der Tatsache bewusst ist, dass auf diese Weise Probleme in entsprechenden gesellschaftlichen Kreisen öffentlichkeitsrelevant thematisiert werden können. Nach entsprechender Sensibilisierung wird irgendwann auch die mathematische Gleichung gelöst werden können. Bleiben wir also optimistisch.

Unser amtierender BDC-Präsident hat ein Projekt dieser Art ins Leben gerufen – das FamSurg Projekt, gefördert vom BMBF, ESF und der Europäischen Union. Im Projekt werden Maßnahmen zur Förderung von Frauen und familienfreundlichen Strukturen in der Chirurgie bearbeitet (Weitere Informationen am Ende des Artikels). Das ist ein weiterer Grund für einen Schritt voraus. Aber was benötigt man, um ein solches Projekt erfolgreich umzusetzen?

Der Pessimist, über den wir bisher noch nicht gesprochen haben, würde wiederum anmerken, dass das alles nichts bringt. Er würde dem ein oder anderen eine Doppelmoral unterstellen, sich in Projekten zu engagieren, aber in der für ihn abänderbaren Realität nichts zu ändern. Der Optimist hingegen würde betonen, dass der Weg das Ziel ist und eine lange Reise auch nur mit dem ersten Schritt beginnt.

Der Realist hingegen würde die Fakten zusammentragen, zum Beispiel in eine Universitätsklinik gehen, schauen, wie es mit der Familienfreundlichkeit an unseren Kliniken aussieht. Er würde folgende Fragen mitbringen: Die Kinderbetreuung – Ist in Deutschland eine hochschuleigene Kita Standard? Die Arbeitszeit – Ist Facharztweiterbildung in Teilzeit möglich? Ist die Weiterbildung entsprechend strukturiert und zielgerichtet? Werden wissenschaftliche Arbeit und Karriereplanung entsprechend unterstützt? Der Realist würde die Klinik wieder verlassen, nach einer Weile an der Travemündung stehen und erkennen, dass Marzipan auch nicht in einem Jahr Weltruf erlangt haben kann. Den Realisten könnte man entsprechend als Beobachter definieren. Der Realist hat prinzipiell die Chance, zum Optimisten bzw. Idealisten zu werden.

Alternativ können wir auch alles so lassen, wie es ist. Es wäre einfach und bequem, was man nicht mal als Pessimismus bezeichnen könnte. Schließlich gibt es neben der Chirurgie auch noch weitere Fachabteilungen, die unsere Chefärzte von gestern würden behandeln können, wenn es keine Chefärzte von morgen mehr gäbe. Wir haben schließlich andere Möglichkeiten. Wir können einen großen Teil des operativen Gebietes einfach in konservative Fachbereiche verlegen. Die nekrotisierende Pankreatitis behandeln wir zum Beispiel in Zukunft einfach nur noch endoskopisch interventionell transgastral. Bei periinterventionellen Komplikationen mit Todesfolge nennen wir das dann einfach natürliche Selektion. Schließlich könnte die Komplikation eben eh bald keiner mehr operieren. Eine weitere Option wäre die perforierte abszedierende Appendizitis. Wir behandeln diese einfach radiologisch interventionell mit einer Pigtaildrainage. Früher wurde die Appendizitis schließlich auch nicht operiert.

Es ist an uns, Tatsachen zu akzeptieren oder an der Veränderung zu arbeiten. Angenommen, wir sehen keine Notwendigkeit etwas zu verändern, womit wir indirekt den Tatsachen zustimmen: Das Ergebnis unserer Akzeptanz kommt der Tatsache gleich, dass sich unser Nachwuchs von uns abwendet und sich für die Fachbereiche entscheidet, die sich der Work-Life-Balance verschrieben haben. Das mag ein Wort sein, das eine Nachkriegsgeneration nicht gekannt haben kann, weil man froh war, überlebt zu haben.

Das ist nun aber der Punkt, an dem wir uns überlegen sollten, welche Position und Chancen wir unserem Fachbereich in der Zukunft geben wollen. Und unsere Zukunft ist nun mal unser Nachwuchs und wenn wir durch die Hörsäle der medizinischen Fakultäten gehen, dann sind das mehr als 60 Prozent Frauen. Und das ist kein Desaster, sondern eine Chance. Schauen wir uns jedoch unseren eigenen Nachwuchs nach dem Studium an, dann finden wir nur 16 Prozent Frauen – und genau das ist unser Problem. Die Diskrepanz muss an dieser Stelle nicht weiter erläutert werden, sie ist offensichtlich. Es geht hier auch nicht um Frauenprojekte oder Frauenförderung. Es geht vielmehr um die Frage, was unsere Gesellschaft und unser Berufsverband bereit ist zu verändern. Letztlich geht es damit vor allem um die Frage, was jeder einzelne von uns bereit ist zu verändern. Jeder von uns hat die Möglichkeit die Augen zu öffnen, um zu sehen.

Sie können auch in die Zukunft blicken. Ich kann in die Zukunft blicken. Das allein ist nicht wichtig, sondern, das, was wir daraus machen: Guten Tag!

Projekt ‚FamSurg’, Förderung von Frauen und familienfreundlichen Strukturen in der Chirurgie

Schierholz S. Der Blick nach vorn und darüber hinaus – Ein Brief an ChirurgInnen. Passion Chirurgie. 2012 November 2(11): Artikel 02_02.

Autor des Artikels

Profilbild von Stefanie Schierholz

Dr. med. Stefanie Schierholz

Projekt FamSurgKlinik für ChirurgieUKSH, Campus LübeckRatzeburger Allee 16023562Lübeck kontaktieren

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