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Interview zur Arbeitsmarktsituation im März 2011 und der Gestaltung von außertariflichen Arbeitsverträgen für Oberärzte mit Dr. Wolfgang Martin, Frankfurt am Main.

Wie schätzen Sie die Arbeitsmarktsituation für chirurgisch tätige Oberärzte derzeit und in naher Zukunft ein?

Generell kann man sagen, dass in den letzten Jahren die Bewerberdecke für Oberarztpositionen merklich dünner geworden ist und zwar über alle Fachgebiete hinweg. Besonders auffällig ist dies natürlich in den Schwerpunkten der großen Fachgebiete, also auch in der Chirurgie. Wie prekär die Bewerbersituation dort ist, mag ein einfaches Rechenbeispiel verdeutlichen: Setzt man die Zahl der Chirurginnen und Chirurgen, die in einem Jahr ihre Weiterbildung in Gefäßchirurgie abschließen, ins Verhältnis zur Zahl der für diesen Personenkreis ausgeschriebenen Oberarztpositionen, so kommt man rein rechnerisch gerade mal auf zwei bis drei potentielle Bewerber pro Oberarztausschreibung. Wohlgemerkt, wenn sich alle frischgebackenen Gefäßchirurgen auf alle ausgeschriebenen Stellen bewerben würden. Das ist in der Realität natürlich nicht der Fall. Damit wird deutlich, wie schnell ein Krankenhaus in die Situation kommen kann, dass es überhaupt keine Bewerbung auf eine Oberarztausschreibung erhält. Genauso „dramatisch“ wie in der Gefäßchirurgie ist die Situation in der Thoraxchirurgie, in der Viszeralchirurgie und auch in der Kinderchirurgie. In der Orthopädie/Unfallchirurgie sieht es rein rechnerisch auf den ersten Blick ein bisschen günstiger aus. Das täuscht aber, denn hier haben wir die Situation, dass ein Großteil der Facharztanerkennungen Orthopädie/Unfallchirurgie noch von Unfallchirurgen oder Orthopäden nach alter Weiterbildungsordnung als Zweitanerkennung erworben wird, und das verfälscht das Bild natürlich. Aus unserer Beratungspraxis wissen wir jedenfalls, dass es ebenfalls extrem schwer ist, Oberarztpositionen in der Orthopädie/Unfallchirurgie zu besetzen. An dieser prekären Bewerbersituation wird sich kurzfristig auch nichts ändern. Die Nachfrage nach Spezialisten wird hoch bleiben, da die Krankenhäuser diese ja dringend für die Profilierung ihres Leistungsspektrums benötigen. Die Zahl an Facharztanerkennungen wird aber nicht plötzlich sprunghaft ansteigen.

Sie haben die Unterschiede in den einzelnen chirurgischen Disziplinen erwähnt. Können Sie das noch präzisieren!

Es gibt eher graduelle Unterschiede bei der Nachfrage in den chirurgischen Fachgebieten. Das zeigt auch der Facharztindex, den mainmedico jedes Jahr ermittelt. Dieser gibt an, wie viele Fachärztinnen und Fachärzte rein rechnerisch auf eine Stellenausschreibung entfallen: 2010 hatte die Gefäßchirurgie den niedrigsten Indexwert, das heißt: Dort war die Bewerberdecke am dünnsten und mit geringem Abstand folgten die Thoraxchirurgie, die Viszeralchirurgie, dann die Plastische Chirurgie und die Orthopädie/Unfallchirurgie. Dabei war es in der Vergangenheit schon immer so, dass die chirurgischen Fachgebiete bei Ihren Indexwerten zum Teil deutlich unter dem Durchschnittswert aller Fachgebiete lagen, d. h. in den chirurgischen Fachgebieten ist die Bewerberdecke immer noch ein Stück dünner als in den meisten anderen Fachgebieten.

Welche sonstigen Qualifikationen, außer der fachlichen und operativen Expertise, werden heute aus Ihrer Erfahrung heraus von chirurgischen Oberärzten erwartet?

Da muss man unterscheiden: Bei der Übernahme der ersten Oberarztposition steht das fachliche Qualifikationsprofil noch deutlich im Vordergrund, sprich die formalen Qualifikationen und der OP-Katalog. Mit zunehmender Oberarzt-Tätigkeit, erst recht wenn es um die Übernahme einer Leitenden Oberarztposition geht, spielen dann aber die Sozial- und Führungskompetenz eine immer größere Rolle; und es wird ja auch von den Oberärzten erwartet, dass sie diese sukzessive ausbauen.

Vielleicht noch ein Wort zu einer betriebswirtschaftlichen Zusatzqualifikation: Von den Oberärzten wird sicherlich ein Grundverständnis und ein Mitdenken in ökonomischen Belangen erwartet. Dies muss aber nicht zwingend durch eine entsprechende formale Qualifikation abgedeckt werden. Das war vor fünf bis sechs Jahren noch ein bisschen anders. Da hatte man manchmal den Eindruck, dass Oberärzte auch noch ein betriebswirtschaftliches Zusatzstudium absolviert haben müssen. Das sehen die Häuser inzwischen sicherlich pragmatischer.

Wie beurteilen Sie die Entwicklung des Berufsbildes „chirurgischer Oberarzt“ in der Zukunft? Muss er bedingt durch den Nachwuchsmangel vermehrt Aufgaben übernehmen, die klassischer Weise „Assistenzarzttätigkeit“ waren?

Das ist sicherlich so. Wenn weniger Assistenz- und Fachärzte in einer Abteilung vorhanden sind, muss die Arbeit von den anderen mitgemacht werden. Das trifft auch und gerade auf die Oberärzte zu, und wegen der damit verbundenen enormen Arbeitsverdichtung macht sich auch unter den Oberärzten immer mehr Frust und Resignation breit. Das spüren wir auch in unserer Beratungspraxis: Wir werden zunehmend von Oberärzten kontaktiert – auffällig aus dem Bereich Orthopädie/Unfallchirurgie-, die ihre Karriere bisher zielgerichtet und zügig vorangetrieben haben, von der enormen Dienstbelastung aber immer mehr zermürbt werden. Der Ausspruch „Privatleben habe ich keines mehr“ ist wahrlich keine Seltenheit. Aufgrund des anhaltenden Nachwuchsmangels sehen sie auch kein Licht am Ende des Tunnels und eine Chefarztposition erscheint auch immer weniger erstrebenswert. Hier wächst also der Wunsch nach anderen Tätigkeitsformen, die mehr Freiräume und Planbarkeit ermöglichen; und in diesem Sinne gibt es ja inzwischen auch eine ganze Menge Alternativen. Zu nennen wäre hier z. B. die Kombination von einer stationären Tätigkeit im Krankenhaus mit der ambulanten Tätigkeit in einem angeschlossenen MVZ, was früher einfach nicht möglich war.

Können Sie Aussagen zu durchschnittlichen Verdienstmöglichkeiten als Oberarzt treffen und gibt es regionale Unterschiede oder Unterschiede in den verschiedenen chirurgischen Fachdisziplinen?

Die Jahresgehälter für Oberärzte liegen im Schnitt zwischen 100.000 € und 145.000 € summa summarum. Im Einzelfall kann das Gehalt natürlich auch deutlich darüber liegen, also wenn es z. B. um Leitende Oberärzte mit einem eigenen Liquidationsrecht geht. In den neuen Bundesländern liegen die Gehälter zwar tendenziell etwas unter West-Niveau, aber der Abstand verringert sich zusehends, und es ist keineswegs so, dass die privaten Klinikträger immer besser zahlen. Um welches chirurgische Fachgebiet es sich handelt, ist letztendlich nicht so entscheidend.

Wie groß sind die Verdienstdifferenzen zwischen den verschiedenen Oberarztkategorien, leitender , geschäftsführender oder Funktionsoberarzt?

Durchschnittsgehälter für die einzelnen Funktionsebenen im Oberarztbereich anzugeben, ist eigentlich nicht möglich, da die Variationsbreite einfach zu groß ist. Die Höhe des Festgehaltes sowie Art und Umfang der variablen Bestandteile hängen ganz wesentlich davon ab, wie groß das Haus ist und wer der Träger ist. Da kann es durchaus sein, dass der Oberarzt in dem einen Haus deutlich mehr verdient als der leitende Oberarzt in einem anderen Haus.

Wie groß ist die Differenz von Gehältern von Oberärzten und Chefärzten? Lohnt sich der Aufstieg aus finanzieller Sicht überhaupt noch, gerade vor dem Hintergrund von AT-Verträgen?

Es gibt sicherlich Fälle, da erscheint die Übernahme einer Chefarztposition unter rein finanziellen Aspekten nicht besonders lohnend. Ich denke da zum Beispiel an Leitende Oberärzte aus Unikliniken oder Schwerpunktkrankenhäusern, die auch in ihrer jetzigen Position schon sehr gut verdienen. Ich denke aber, für das Gros der Oberärzte ist der Wechsel in eine Chefarztposition nach wie vor durchaus lukrativ, auch wenn die damit verbundenen Gehaltssteigerungen nicht mehr ganz so üppig ausfallen wie in der Vergangenheit. Mit Zunahme der AT-Verträge wird sich der Abstand zwischen Ober- und Chefarztgehältern in einigen Bereichen sicherlich weiter verringern. Ob sich dann die Vertragsmuster der AT-Verträge auch immer mehr den Chefarztverträgen angleichen und es vielleicht irgendwann nur noch einen einheitlichen Vertrag für leitende Ärzte gibt, das muss man abwarten.

Wie beurteilen Sie die Tendenz zur Vergütung der Oberärzte über AT-Verträge? Halten Sie diese für ein geeignetes betriebswirtschaftliches Mittel aus Sicht einer Geschäftsführung und für ein erstrebenswertes Ziel für die betroffenen Oberärzte?

Grundsätzlich stellen AT-Verträge mit Ihren Zielvereinbarungen sicherlich ein geeignetes Steuerungsinstrument dar, um die Leistungsfähigkeit einer Abteilung oder eines Hauses zu steigern. Es wird eine Situation angestrebt, in der sowohl die ärztlichen Leistungsträger als auch die Krankenhäuser gleichermaßen profitieren. Allerdings müssen die Verträge auch in Maßen und gezielt eingesetzt werden. Es wäre problematisch, wenn irgendwann alle Oberärzte über ähnliche AT-Verträge verfügen, egal ob es sich hier um Leistungsträger handelt oder nicht. Anreiz-Systeme, z. B. Bonizahlungen, sind ja auch im Bereich der normalen Tarifverträge realisierbar.

Ein Wort vielleicht noch zur momentanen Situation in den Krankenhäusern. Man kann durchaus beobachten, dass es schon für Unruhe unter den Oberärzten sorgt, wenn bei Neueinstellung verstärkt AT-Verträge abgeschlossen werden. Das bestehende Gehaltsgefüge gerät ja dadurch etwas durcheinander und es werden durchaus auch Begehrlichkeiten bei den alteingesessenen Oberärzten geweckt. Außerdem wird zum Teil Misstrauen gesät, wenn Stillschweigen über die Vertragsinhalte vereinbart wurde, wenn also nicht klar ist, wie viel dieser neue Kollege/diese neue Kollegin letztendlich verdient. Hier ist auch auf Seiten des Krankenhausträgers sicherlich eine ganze Menge Fingerspitzengefühl erforderlich.

Was gibt es aus Ihrer Sicht bei AT-Verträge für Oberärzte zu beachten?

Grundsätzlich ist sicherlich dazu zu raten, die Vertragskonditionen kritisch zu prüfen, denn es handelt sich ja um einen ganz entscheidenden Karriereschritt. Allerdings ist im Hinblick auf Sozialleistungen – Stichwort Kündigungsschutz, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall – kaum eine Verschlechterung zu befürchten, da in der Regel in den AT-Verträgen die wesentlichen Bestimmungen des geltenden Tarifrechts übernommen werden. Dann sollte man die Vertragsverhandlungen natürlich mit Augenmaß führen und den Bogen nicht überspannen. Denn schließlich soll ja die Basis gelegt werden für eine längerfristige Zusammenarbeit in einer vertrauensvollen Atmosphäre, die auch noch Entwicklungsmöglichkeiten für beide Seiten offen hält.

(Das Interview führte Matthias Franzke)

Martin W. Chirurgische Fachgebiete mit dünner Bewerberdecke. Passion Chirurgie. 2011 März; 1 (3): Artikel 02_02

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Dr. Wolfgang Martin

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