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Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in der Medizin wird seit langer Zeit als Problem thematisiert [1] und ist für alle Betroffenen auch emotional besetzt [2]. Die intensiven Debatten in der deutschen Verbandsliteratur [3–6], dem Deutschen Ärzteblatt [7, 8] und qualitativ besonders hochwertige internationale Forschung [9–16] lassen sowohl das hohe Gewicht dieser sozialen Frage erkennen als auch die Tatsache, dass es offenbar keine einfachen Lösungen für den Rollenkonflikt gibt.

Eine Zuspitzung erfuhr das fachübergreifende Ringen nach Orientierung im vergangenen Jahr auf dem Deutschen Ärztetag. Hier wurde sehr pointiert vom Direktor einer großen und besonders leistungsstarken chirurgischen Universitätsklinik eine persönliche Erfahrung und Beobachtung dargestellt mit den Worten „Ein guter Doktor und gleichzeitig eine gute Mutter/Vater zu sein, das lässt sich nicht unter einen Hut bekommen [17].“ Diese Position löste erwartungsgemäß intensive Kontroversen aus.

Aus Anlass des Deutschen Chirurgenkongresses 2019 wurde ein Forum für die Diskussion der Frage nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf in der Chirurgie gestaltet. Hierbei hatte ich Gelegenheit, einer aus meiner Sicht defätistischen Perspektive, kreative Lösungsansätze, insbesondere auch als Ermutigung für den chirurgischen Nachwuchs, entgegenzusetzen [18].

Der Berufsverband der Deutschen Chirurgen hat sich in seiner Verantwortung für die Darstellung des chirurgischen Berufsbildes, insbesondere auch gegenüber dem bereits gewonnenen, aber auch gegenüber dem potenziellen Nachwuchs in unserem Beruf, dieses konfliktreichen Problems intensiv angenommen [4, 5].

WIE BEGEISTERN WIR JUNGE MENSCHEN FÜR DIE CHIRURGIE?

Ich freue mich, dass der BDC mir die Möglichkeit gibt, hier meinen positiven Ausblick für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in der Chirurgie in sieben Fokussierungen darzustellen:

  1. Chirurgie 2020 – Hightech oder high social? Alles deutet darauf hin, dass die Zukunft der Chirurgie in Deutschland und international durch zwei Elemente geprägt sein wird: Erstens die konstante Entwicklung zur Hochtechnologisierung komplexer Operationen – Stichwort roboterunterstützte Chirurgie – und zweitens die brennende Frage nach ausreichend qualifiziertem Nachwuchs. Ein erheblicher Anteil der operativen Leistung wird in Zukunft in Zentren erbracht werden, die den unausweichlichen Trend zur Digitalisierung und Roboterassistenz umsetzen. Roboterunterstützte Operationen haben jedoch eine lange Lernkurve und setzen jeweils eine zeitaufwendige und kostenintensive Organisation voraus [19, 20]. Legt man die Gesamtzahl operativer Eingriffe in Deutschland als mehr oder weniger konstant auch für die Zukunft zu Grunde, wird deutlich, dass für die Versorgung in der Breite neben dem hochspezialisierten Personal v. a. eine große Anzahl qualifizierter Operateurinnen und Operateure benötigt wird. Hochrechnungen lassen hierzu ausnahmslos einen erheblichen Mangel an Nachwuchs schon jetzt und für die Zukunft erkennen [21]. Das Gesundheitssystem wird sich entscheiden müssen, ob es diese Lücke durch Personal mit möglicher Sprachbarriere, medizinischer Qualifikation, die nicht unseren qualitätsorientierten Standards entspricht oder abweichender medizinkultureller Sozialisation [22] füllen oder kreative Lösungen für die Suche nach motiviertem Nachwuchs aus dem deutschsprachigen Bildungssystem erarbeiten will. Letztgenanntes scheint favorisiert zu werden, dies lassen immense Anstrengungen zur Nachwuchsrekrutierung auf allen Ebenen seit 15 Jahren erkennen.Die immer wieder gleiche Frage lautet hierbei: Wie begeistern wir junge Menschen für die Chirurgie? Wir wissen über den erhofften Nachwuchs: Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist das am weitesten verbreitete Berufsziel junger Ärztinnen und Ärzte [8].
  2. Die aktuelle Intensivierung der Debatte um die Vereinbarkeit von Familie und Chirurgie erscheint wichtig. Eine Fülle hochrangiger Publikationen in Nordamerika beleuchtet in jüngster Zeit immer deutlicher den Handlungsbedarf [9–16]. Im deutschen Sprachraum konnte eindrucksvoll aufgezeigt werden, dass eine Unterbrechung für Erziehungszeit negative Auswirkungen auf die Karriere hat [2]. Mit etwas sprachlichem Spielraum ist die Äußerung von Professor Izbicki auf dem Deutschen Ärztetag 2018 vielleicht eine sehr zutreffende Bilanz: Ein guter Doktor und gleichzeitig eine gute Mutter/Vater zu sein, stellt enorme Anforderungen an die soziale Kompetenz, das persönliche Organisationsgeschick und die physische und psychische Belastbarkeit junger Ärztinnen und Ärzte. Es darf jedoch angenommen werden, dass unter 385.000 Ärztinnen und Ärzten in Deutschland zahlreiche gute Eltern sind. Möchte man Zweifel berücksichtigen, ob diese auch „gute Doktoren“ sind, so genügt ein Blick auf die im Internet veröffentlichten Familienverhältnisse in der Elite der deutschen Chirurgie: die Vereinigung von Mutterschaft/Vaterschaft mit chirurgischer Spitzenleistung ist ganz und gar kein Ausnahmefall. Hier erscheint wichtig, dass die Erfüllung der Elternrolle nach heutigem Verständnis keine überwiegende häusliche Anwesenheit erfordert.
  3. Vor dem Hintergrund des Gesagten ist klar: für die personelle Zukunftsgestaltung in der Chirurgie wird eine integrative Kultur anstatt einer exklusiven Kultur benötigt. Als sehr kleines und bescheidenes Beispiel hierzu habe ich mich bemüht, meine eigene Erfahrung mit einem – allein empirisch gesehen – progressiven Beitrag zur Familienarbeit als Mann in der Chirurgie bekannt zu machen und diese publiziert [23]. Ich nahm 2002 für unsere Tochter ein Erziehungsjahr, als dieses zumindest an deutschen Universitätskliniken eine extreme Ausnahme für einen Mann war. Über alle Versorgungsbereiche gerechnet, war das Verhältnis von Ärztinnen zu Ärzten in Erziehungszeit damals 96 % vs. 4 % [24] – bei zu einem großen Teil gleicher beruflicher Qualifikation beider Elternteile [25]. Meine Weiterbildungszeit lag mit 6,25 Jahren im Bereich von Durchschnittsangaben des BDC und der Bundesärztekammer. Während meiner Weiterbildungszeit bekamen wir zwei Kinder, meine Ehefrau wurde Fachärztin für Dermatologie. Im 17-Jahres-Follow-up haben heute Vater und Mutter gleiche Einkommen. Somit bestand durch meine einjährige Unterbrechung für Erziehungszeit kein Unterschied im Ergebnis der Weiterbildung im Vergleich zu Kollegen, die keine Erziehungszeit nahmen und im Langzeitverlauf entstanden keine Karriereeinschränkungen für Vater oder Mutter.Ernüchternd ist dagegen, dass sich das numerische Verhältnis von Ärztinnen zu Ärzten in Erziehungszeit über diesen Zeitraum noch weiter ins Extrem entwickelt hat: die aktuellen Zahlen lauten 97,5 % vs. 2,5 % [26]
  4. Das Ungleichgewicht sowohl in der Lastenverteilung als auch in der Chancenzuteilung zu Ungunsten der Frauen in der Medizin/Chirurgie wurde vielfach demonstriert und wissenschaftlich belegt [9–16]. Zynisch, dass die Vereinbarkeit von Familie und Chirurgie hochrangigen Forschungsergebnissen zufolge, mutmaßlich aber v. a. durch tägliche Erfahrung betroffener Chirurginnen bestätigt, offenbar für Frauen schwerer gemacht wird als für Männer. Nochmals mit Blick auf die Literatur, sicher aber auch gefühlt, ist absehbar, dass sich die Frauen dieses nicht länger gefallen lassen werden. Letztere bilden aktuell die Mehrheit des ärztlich qualifizierten Personals (65 %) [27]. Klinikdirektorinnen und -direktoren sind gut beraten, wenn sie nach kreativen Lösungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf unter Einbeziehung der Männer suchen.
  5. Schließlich: Wenn die Beanspruchung für Familienarbeit als Bedrohung für die Qualifikation oder Leistungsfähigkeit gesehen wird [17], warum sorgt die gleichen Bedenkenträger dann nicht der ineffiziente Einsatz junger Ärztinnen und Ärzte während der Arbeit? Hakenhalten über viele Stunden an vielen Tagen in der Ausbildung ohne Sicht auf das OP-Feld [28], ausufernde administrative Tätigkeiten [29], sicher delegierbare Verrichtungen wie Blutentnahmen und Legen von Zugängen, nächtelanges Arbeiten in Notaufnahmen mit 50 % unnötigen Konsultationen [30]? Hier wird sowohl der Patientenversorgung, als auch der Karriere mehr Zeit entzogen als bei der Familie. Eine Antwort auf diese Frage zu finden, könnte hilfreich sein, um auch anderen Innovationsstau in der Chirurgie zu verstehen. Vielleicht ist die Sorge, die Familie könnte mit der Chirurgie rivalisieren, nur unbewusst vorgeschoben und eigentliches Motiv ist hier eine nostalgische Sehnsucht nach den quasi feudalistischen Gesellschaftsstrukturen, die das Arbeiten in chirurgischen Kliniken noch bis vor kurzer Zeit prägten. Ein anderer Erklärungsansatz würde aus psychologischer Perspektive ebenso einleuchten und wurde von K. Schlosser in einem früheren Editorial dieser Zeitschrift formuliert: Wenn es heute möglich erscheint, Familie und Chirurgie zu vereinbaren, könnte für manche/n eine schmerzliche Konfrontation mit der Frage entstehen, ob er/sie selber wirklich für die eigene Karriere auf so viel anderes verzichten musste [4].
  6. Eine Würdigung: Die Bewältigung des genannten Rollenkonflikts wird mit großem Erfolg bereits heute von einer beeindruckenden Anzahl junger Ärztinnen und Ärzte geleistet. Diese Performance ist beispiellos in der Geschichte der Medizin. Wer behauptet, Familie und Chirurgie lasse sich nicht „unter einen Hut bringen“, negiert diese Leistung einer jungen Generation.
  7. Eine Anregung: Chirurgen lassen sich gerne die Leidenschaft nach dem „schneller, höher, weiter …“ nachsagen. Wer das für sich beansprucht, kann doch auch in der zukünftigen – historisch vielleicht größten – sozialen Herausforderung der Vereinbarkeit von Familie und Chirurgie seine Befriedigung finden.

Mein Fazit

Zahllose gute Ärztinnen und Ärzte sind gute Eltern. Wer kreativ Familie und Beruf vereinbart, ist „high social“ und qualifiziert sich für die Chirurgie mindestens so gut wie Hightech. Für die Zukunft der Chirurgie ist essenziell, Kolleginnen und Kollegen, die Familie und Beruf nach modernem Verständnis vereinbaren, zu integrieren, anstatt sie auszuschließen.

Die Literaturliste erhalten Sie auf Anfrage via [email protected].

Allemeyer E: Chirurgie 2020 – Hightech oder high social? Passion Chirurgie. 2019 September, 9(09): Artikel 09_01.

Vortrag von Dr. E. Allemeyer zum Thema „Erfolgreich als Chirurg mit Familie – das geht!“ auf dem 136. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. Mehr lesen.

Autor des Artikels

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Dr. med. Erik Allemeyer

Leitender ArztSektion Proktologie, Kontinenz- und BeckenbodenchirurgieFranziskus Hospital HarderbergAlte Rothenfelder Straße 2349124Georgsmarienhütte kontaktieren

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