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BDC-Umfrageergebnisse: Operation von Nahestehenden

Jeder Arzt kann damit konfrontiert werden, Verwandte und Freunde zu behandeln – vom einfachen medizinischen Rat bis zu komplexen, risikoreichen Operationen. Vor allem bei einer Operation stellt sich die Frage, ob der beteiligte Chirurg einen Angehörigen oder Freund gerne, voll Stolz, vielleicht mit mangelnder Objektivität oder gar Widerwillen und Angst operiert und weiterbehandelt. Sicherlich bestehen Unterschiede, je nach Erkrankung, Größe und Dringlichkeit des Eingriffs, sowie Erfahrung und Einstellung des Chirurgen und des Patienten. Für den Chirurgen und den Patienten ergibt sich dabei eine Konstellation, die das übliche Arzt-Patient-Verhältnis übersteigt. Beide Seiten können, auch jenseits der medizinischen Ebene, in eine schwierige Situation geraten. Es stellt sich auch die Frage, ob Chirurgen für solche Fälle ethische Entscheidungshilfen wünschen. Im Gegensatz zu den USA, wo hierzu klare ethische Richtlinien der „American Medical Association“ etabliert sind, gibt es in Europa bzw. Deutschland zu diesem Thema keine Richtlinien oder Veröffentlichungen.

Um Sichtweise und Umgang der deutschen Chirurgen mit dem Thema zu eruieren, wurde ein Fragebogen entwickelt, der ohne Registrierung online ausgefüllt werden konnte und in eMail-Newslettern des BDC verlinkt war.

Ergebnisse und Interpretation

Von den damals 16.849 BDC Mitgliedern haben 9,8 % den Fragebogen bearbeitet, davon 17,5 % Frauen.

Immerhin 77,6 % gaben an, bereits einen Verwandten oder Freund operiert zu haben. Dies waren zu 62,8 % kleinere Eingriffe (z. B. Hautexzision, Leistenhernie, Arthroskopie), zu 32,6 % mittlere Eingriffe (z. B. Carotis-TEA, Hüft- TEP, Colonresektion) und zu 5,6 % größere Eingriffe (z. B. erweiterte Hemihepatektomie, Aortenklappenersatz). Gründe für die Wahl, den Verwandten oder Freund (nicht) selbst zu operieren, zeigt Tabelle 1.

Tab. 1: Gründe und Häufigkeiten dafür, einen Angehörigen oder Freund (nicht) operiert zu haben (Mehrfachnennungen waren möglich)

Haben Sie schon einmal einen Nahestehenden operiert?

Ja: 77,5 %

Nein: 22,5 %

Sie haben den Nahestehenden operiert, weil …

Wenn Sie noch nie einen Nahestehenden operiert haben, war das weil …

sonst kein Operateur zur Verfügung war.

5,80 %

ich noch nie in der Situation war, einen Nahestehenden operieren zu können oder müssen.

58,60 %

Sie den Eingriff am besten beherrschen.

19,30 %

ich mich dabei nicht wohlfühlte.

13,30 %

jemand anders die OP besser beherrscht.

10,80 %

Sie die volle Kontrolle über den Eingriff haben möchten.

20,90 %

das Arzt-Patienten-Verhältnis so nicht funktioniert/die Objektivität fehlt.

16,70 %

der Nahestehende das nicht mochte.

0,30 %

der/die Nahestehende Sie darum gebeten hat.

54,00 %

andere das nicht gut fanden.

0,30 %


Mögliche Freitextantworten beinhalteten hierbei u. a.: „
Ich war Diensthabender“, „Chef wollte das“, „die Familie hat das erwartet“, „ich habe massivem Druck nachgegeben“, „weil auch meine Kinder das Recht haben vom besten Operateur behandelt zu werden“, „ich musste wissen, ob ich das kann“, „wenn mein Können für meine Lieben nicht ausreicht, darf ich auch keinen anderen Menschen operieren.“

Es hatten 39,7 % vor der Operation Bedenken, die sie sonst nicht haben. Nach eigenen Angaben waren 19,9 % der Befragten nervöser während der OP, sorgfältiger waren nach eigenen Angaben 10,4 %, langsamer 9,8 % und nicht anders als sonst verhielten sich 59,9 %.

Laut der Umfrage ist bei der Operation von Nahestehenden also Objektivität nicht garantiert. Trotzdem haben 77,6 % der an der Umfrage teilnehmenden bereits Freunde oder Verwandte operiert. Nur in 5,8 % der Fälle wurde der Eingriff durchgeführt, weil kein anderer Operateur zur Verfügung stand, obwohl in 25,4 % Notfallindikationen vorlagen. Die meisten Chirurgen, die ablehnten, taten dies, weil ein anderer Operateur besser wäre oder sie die notwendige eigene Objektivität missten. Die o. g. Gründe in den Freitextantworten, die dazu führten, den Freund oder Angehörigen zu operieren, lassen auch die Zurückhaltung bzw. den Mangel an Objektivität spüren. Vor, während und nach der OP können Emotionen ins Spiel kommen: vor der OP hatten 40 % Bedenken, aber 96 % waren mit der OP und dem postoperativen Verlauf zufrieden. Vielleicht, weil die Operation ein routiniertes Vorgehen beinhaltet und der Rest des Teams nicht emotional involviert ist. Ca. 40 % gaben an, sich während der Operation anderes als sonst zu fühlen oder zu verhalten. Letztlich also bestand wiederum keine Objektivität. Ein Kollege zeigte einen, zumindest für die Operation, möglichen Lösungsansatz: „Zur Sicherstellung der eigenen Sachlichkeit lasse ich mir diese Eingriffe von einem erfahrenen Mitarbeiter assistieren, dem ich vertraue und der für die OP ein vereinbartes Veto-Recht hat“.

Weitere Ergebnisse finden sich in Tabellen 2 bis 5.

Tab. 2: Antworten auf verschiedene Ja/ Nein-Fragen aus dem Fragebogen

Fragen, die von allen beantwortet wurden:

Ja

Nein

Würden Sie in Zukunft bei Gelegenheit einen Nahestehenden operieren?

79,4 %

20,6 %

Würden Sie Kolleg(inn)en bei der anstehenden OP eines Nahestehenden davon abraten, zu operieren?

58,4 %

41,6 %

Würden Sie sich selbst von Nahestehenden operieren lassen? (Weitere Antwortmöglichkeit: „weiß nicht“: 19,1 %)

61,7 %

19,2 %

Haben Sie sich bereits mit dem Thema „Operieren von Nahestehenden“ befasst?

79,2 %

20,8 %

Hätten Sie gerne ethische Entscheidungshilfen oder Leitlinien an der Hand, für den Fall, dass Sie einen Nahestehenden operieren können/ müssen?

30,8 %

69,2 %

Fragen, die von denen beantwortet wurden, die bereits einen Nahestehenden operiert haben:

War die OP elektiv?

74,6 %

25,4 %

Gab es Komplikationen?

5,4 %

94,6 %

Haben Sie die Behandlung bei Komplikationen fortgeführt?

94,4 %

5,6 %

Waren Sie mit der Operation und dem Verlauf zufrieden?

97,8 %

2,2 %

Haben Sie bei der Operation des Nahestehenden die Indikation wie immer gestellt?

89,8 %

10,2 %

Haben Sie vor der Operation des Nahestehenden Diagnostik durchführen lassen, die Sie sonst nicht fordern?

2,9 %

97,1 %

Haben Sie bei der Operation des Nahestehenden den Eingriff anders durchgeführt als sonst?

1,7 %

98,3 %

Tab. 3: Verhältnis zwischen beruflichem Stand und abweichendem Therapiewunsch für einen selbst. Signifikant abnehmende Diskrepanzen mit Erklimmen der Karriereleiter.

Gibt es Erkrankungen, bei denen Sie

für sich selbst anders entscheiden würden,

als Sie es Patienten empfehlen würden?

Was ist Ihre aktuelle berufliche

Position?

Ja

Nein

Assistenzarzt

58,0 %

42,0 %

Facharzt

54,7 %

45,3 %

Oberarzt

43,1 %

46,9 %

Chefarzt

26,6 %

73,4 %

Niedergelassener Arzt

24,6 %

75,4 %

Tab. 4: Verhältnis zwischen der Bereitschaft, in der Zukunft Nahestehende zu operieren und verschiedenen Variablen.

Würden Sie in Zukunft bei Gelegenheit einen Nahestehenden elektiv oder notfallmäßig operieren?

Ja

Nein

Haben Sie schon einmal einen Nahestehenden operiert?

Ja

89,4 %

10,6 %

Nein

44,7 %

55,3 %

War die Operation eine …

kleine?

87,0 %

13,0 %

mittlere?

92,4 %

7,6 %

große?

94,4 %

5,6 %

War die OP …

elektiv?

89,8 %

10,2 %

notfallmäßig?

87,6 %

12,4 %

Gab es Komplikationen?

Ja

74,6 %

25,4 %

Nein

90,0 %

10,0 %

Würden Sie Kollegen bei der

anstehenden OP eines Nahestehenden …

davon abraten?

62,6 %

37,8 %

dazu raten?

98,9 %

1,1 %

Tab. 5: Verhältnis des Bedarfs nach ethischer Hilfe und ob man bereits einen Nahestehenden operiert hat

Hätten Sie gerne ethische Entscheidungshilfen oder Leitlinien an der Hand, für den Fall, dass Sie einen Nahestehenden operieren können/ müssen?

Ja

Nein

Haben Sie schon einmal einen

Nahestehenden operiert?

Ja

27,9 %

72,1 %

Nein

41,2 %

58,8 %

Quelle: Knuth J, Bulian DR, Ansorg J, Buchler P. When You Operate on Friends and Relatives: Results of a Survey among Surgeons. Med Princ Pract. 2017 Jan 18. doi: 10.1159/000456617.

Es gibt Untersuchungen, in denen Ärzte beobachten, dass andere Ärzte ihre Familie in einem Drittel der Fälle inadäquat behandeln. Dies spiegelt sich bei 35 % der Chirurgen wider, die in unserer Umfrage laut anderen Ärzten die OP-Indikation bei Nahestehenden strenger oder großzügiger stellen bzw. 13 %, die laut Kollegen gar andere OP-Verfahren wählen als bei „normalen“ Patienten. In der Selbsteinschätzung sind diese Zahlen deutlich geringer (10,0 % bzw. 1,7 %). Bei der etwas aus der Thematik weichenden, aber vom Ergebnis her fast erschütternden Frage, ob es Erkrankungen gibt, bei denen der Chirurg für sich selbst anders entscheiden würde, als er es Patienten empfiehlt (z. B. Leistenhernienversorgung ohne statt mit Netz, Schilddrüsenteilresektion statt total, hüftkopferhaltendes Verfahren statt Endoprothese), bejahten dies 37 % (Tab. 3). Erklärend kann hier vermutet werden, dass der erfahrene Chirurg die Vorteile der Therapiestandards erlebt hat, während der unerfahrenere diesen noch nicht vertraut.

Die mit ca. 5 % angegebenen Komplikationen entsprechen der üblichen Häufigkeit. Wie sonst auch haben die Chirurgen bei Komplikationen die Behandlung selbst weitergeführt. Allerdings gaben 0,6 % an, dass nach der Behandlung das persönliche Verhältnis zueinander schlechter geworden ist. Die Bindung zu einem Freund oder Angehörigen als Patient wird sehr intensiv sein und kann eine Beziehung auch intensivieren. Allerdings kann dies je nach Verlauf auch ins Gegenteil umschlagen. Ein Risiko von 0,6 % mag klein erscheinen, aber die Konsequenzen können weitreichend sein: Man muss gewappnet sein, einen guten Freund zu verlieren oder eine verwandtschaftliche Beziehung zu zerstören (Tab. 2).

Warum empfehlen Chirurgen, die Freunde oder Verwandte operieren würden, anderen dies nicht zu tun? Warum würden sich diese Chirurgen selbst nicht von nahestehenden operieren lassen? Diese psychologischen Phänomene, die auch bei anderen Themen auftreten, die eine Selbsteinschätzung erfordern, sind ein weiterer Hinweis für die mangelnde Objektivität (Tab. 2, 4).

In der wenigen vorhandenen Literatur zum Thema finden sich praktisch keine Argumente, die dafür sprechen, einen Nahestehenden als Patienten anzunehmen und zu operieren. Es wird lediglich aufgeführt, dass man mehr Dankbarkeit erntet bzw. mehr Zufriedenheit verspürt als sonst. In der BDC-Umfrage ergibt sich als einziger interpretierbarer Vorteil, dass bei knapp 9 % der Befragten die Beziehung zum Patienten hinterher noch besser war als zuvor.

Demgegenüber stehen viele potenzielle Nachteile und damit folgende Fragen, die man für sich bzw. mit dem Patienten zusammen erörtern sollte:

  • Bin ich bereit, meine Freundschaft zu dieser Person aufzugeben?
  • Mache ich nicht falsche Annahmen, was der Nahestehende während der Therapie erwartet oder fürchtet?
  • Kann ich die Risiken des Eingriffs ehrlich aufzeigen?
  • Kann ich intime Details erfragen und mit diesen umgehen- und kann das auch der Patient?

Besonders wenn es um eigene Kinder als Patienten geht, stellen sich diese Fragen – aber z. B. auch, ob der aufklärende bzw. operierende Arzt derjenige sein sollte, der auch die Einverständniserklärung unterzeichnet. Auch bezüglich der Behandlung eigener Kinder gibt es Daten, die für diese Fälle eine gemäß Standards nicht adäquate Behandlung bezeugen.

Zusammenfassung

Es ist sehr wahrscheinlich, dass ein Chirurg während seiner Karriere einen Verwandten oder Freund operieren könnte. Eine objektive, professionelle Herangehensweise des Arztes sowie eine unbefangene und ehrliche Präsentation von Seiten des Patienten sind dabei nicht garantiert. Sowohl der Behandlungsprozess, als auch die interpersonelle Beziehung können darunter leiden. Eine Überweisung an einen Kollegen sollte erwogen werden. Falls sich beide Seiten doch auf die Behandlung einlassen, so sollten von beiden Seiten Ängste und Erwartungen zu Anfang angesprochen und diskutiert werden. Ethische Richtlinien sollten entwickelt werden, nicht zuletzt um beiden Seiten einen Rückzug zu ermöglichen. Für weitergehende Details sei auf die Originalpublikation verwiesen.

Literatur erhalten Sie via passion_­[email protected]

Knuth J. / Bulian D. R. / Büchler P. / Ansorg J. Business as usual? Wenn Freunde und Verwandte zu Patienten werden. Passion Chirurgie. 2017 Juli, 7(07): Artikel 03_01.

Fragebogen der BDC-Umfrage „Operieren von Nahestehenden“

Autoren des Artikels

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Dr. med. Jürgen Knuth

Klinik für Allgemein-, Viszeral-, Thorax- und KinderchirurgieKlinikum KemptenRobert-Weixler-Straße 5087439Kempten kontaktieren
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Dr. med. Dirk Rolf Bulian

Klinik für Viszeral-, Gefäß- und Transplantationschirurgie, Klinikum der Universität Witten/Herdecke, Campus MerheimKliniken der Stadt Köln gGmbHOstmerheimer Str. 20051109Köln kontaktieren
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Prof. Dr. med. Peter Büchler

Klinik für Allgemein-, Viszeral-, Thorax- und KinderchirurgieKlinikum Kempten, Kempten
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Dr. med. Jörg Ulrich Ansorg

GeschäftsführerBerufsverband für Orthopädie und Unfallchirurgie (BVOU) e. V.ehem. BDC-GeschäftsführerStraße des 17. Juni 106–10810623Berlin kontaktieren

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