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Vorwort

Careless or mindful? Stressbewältigung in der Chirurgie

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

wer regelmäßig schnelle und harte Entscheidungen trifft, diese technisch und strategisch konsequent und prompt umsetzt und dabei in ständiger, persönlicher Verantwortung steht, unterliegt einer starken psychischen Beanspruchung. So läuft die Chirurgie täglich, und deshalb bedeutet Chirurgie neben den vielen Erfolgen immer auch Stress. Wir alle wissen das. Doch wie gehen wir mit dieser Strapaze um? Wie verarbeiten wir belastende Komplikationen? Wie arrangieren wir uns mit den sich ewig wiederholenden strukturellen, materiellen und personellen Engpässen? Und wie ertragen wir die ständige Spannung zwischen buchhalterischer Ökonomie und ärztlichem Ethos?

Wir lernen in Studium und Beruf viel über das Wohl und Wehe unserer Patienten, unsere moralischen Pflichten und unsere ökonomische Verantwortung – Aufmerksamkeit für die eigenen Bedürfnisse lernen wir nicht. Und wohl auch deshalb leiden Mediziner im Vergleich zu anderen Berufsgruppen deutlich häufiger an Ängsten Burnout, Depression oder Erschöpfung.

Gute Chirurg:innen sind pragmatisch. Fehlt uns also vielleicht einfach nur die „richtige Pille“? Ganz so einfach ist es wohl nicht. Doch Achtsamkeit oder Mindfulness könnte ein wichtiger Schlüssel zur Entlastung sein. Achtsamkeit beschreibt verkürzt die bewusste Wahrnehmung des gegenwärtigen Moments und seine Trennung von emotionalen Belastungen. Das reduziert Stress, und steigert die Resilienz.

„Gentlemen, this is no humbug“. Mindfulness-Based Stress Reduction ist kein esoterischer Quatsch, sondern evidenzbasierte Therapie. Der folgende Beitrag gibt Ihnen einen ersten Überblick.

Erhellende Lektüre wünschen

Prof. Dr. med. C. J. Krones

und

Prof. Dr. med. D. Vallböhmer

Die zentralen Herausforderungen für die Chirurgie sind die Akquisition qualifizierten Nachwuchses und eine geistige und körperliche Ärztegesundheit. Offensichtlich stehen diese beiden Umstände auch in enger Korrelation miteinander. Welcher PJ-Student möchte schon in einer Abteilung anheuern, in der die ärztlichen Kollegen auf ihn überarbeitet, zynisch oder depressiv verstimmt wirken?

Wie lässt sich qualifizierter Nachwuchs am besten rekrutieren und halten? Neben einer modernen Personalpolitik, einer strukturierten Weiterbildung, einem adäquaten Umgang mit der zunehmenden Digitalisierung und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist dabei die Erhaltung der ärztlichen Gesundheit entscheidend. Junge Ärzt:innen sind heute in der Regel nicht mehr bereit, ihre seelische und körperliche Gesundheit dem beruflichen Erfolg zu opfern.

Längst ist bekannt, dass Stress und hohe Belastung bei bis zu 50 Prozent der Chirurg:innen zu Symptomen des Burnout oder der Depression führen. [1, 2] Auch die BDC-Umfrage aus dem Jahr 2019 bestätigte diese Stresswahrnehmung und die hohe Burnout-Rate. [3] Im Rahmen seiner Antrittsrede in der Generalversammlung des Weltärztebundes 2018 sagte Präsident Leonid Eidelman: „Physician burnout is a symptom of a larger problem – a healthcare system that increasingly overworks doctors and undervalues their health.” Diese Annahme hat in den letzten Jahren sicherlich weiter an Brisanz gewonnen. In den USA spricht man mittlerweile sogar von einer Burnout-Pandemie unter Chirurg:innen. Je nach Studie bestehen Burnout-Raten zwischen 37 und 53 Prozent. [4] Dabei ist Burnout definiert als eine Kombination aus emotionaler und körperlicher Erschöpfung, Zynismus und Depersonalisierung.

Die positiven Entwicklungen bei externen Faktoren, wie der Vergütung und der Arbeitshygiene in der Ärzteschaft (Abschaffung AIP, verbesserte Tarifverträge, Arbeitszeitschutzgesetz etc.), reichen offenkundig nicht aus, um ein gesundes Arbeitsklima zu erzeugen. Auch Studien aus den USA belegen, dass Arbeitszeitanpassungen und eine Flexibilisierung der Arbeitsstrukturen allein keinen signifikanten Einfluss auf die Wahrnehmung des Wohlbefindens und die Burnout-Rate haben. [6, 7]

Offensichtlich muss der Trigger auch von innen heraus kommen. Anscheinend müssen Chirurg:innen wohl erst individuelle kognitive Fähigkeiten lernen, um Resilienz und Konstitution zu entwickeln und damit den zweifelsfrei hohen Belastungen besser standhalten zu können. Dabei geht es nicht nur um das eigene Wohlergehen. Denn Überlastung führt auch zu einer höheren Fehlerrate und wird so zur potenziellen Gefahr für die Patienten.

Wie Stress empfunden und verarbeitet wird, hängt natürlich von vielen externen und internen Faktoren und der individuellen Konstitution und Resilienz ab. Aber eindrucksvolle Daten belegen nun, dass Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (Mindfulness-Based Stress Reduction – MBSR) sowohl Symptome des Burnouts und depressiver Verstimmung lindern als auch die Leistungsfähigkeit erhöhen kann. [5] MBSR beziehungsweise Mindfulness hilft dabei, den Blick zu fokussieren, innere Kraft und Ruhe zu mobilisieren und mittel- und langfristig die Resilienz gegen Stress zu erhöhen.

In diesem Zusammenhang ist es sehr interessant, dass die Wörter Medicus, also Arzt, und Meditation etymologisch die gleiche Wurzel, nämlich „medeor“ („ich heile“) haben. Es bekräftigt die heilende Wirkung der Meditation. Der Arzt kann seinen Patienten von außen heilen, während der Meditierende sich selbst von innen heilen kann.

Die Ursprünge der Achtsamkeitslehre reichen als Teil der buddhistischen Tradition 2500 Jahre zurück. Im Jahre 1979 wurden sie dann von dem amerikanischen Molekularbiologen Dr. Jon Kabat-Zinn aufgegriffen und im Rahmen der MBSR genutzt, um Patienten mit chronischen psychischen und körperlichen Leiden zu therapieren. Dies geschah ganz bewusst in völliger Entkoppelung von spirituellen, Glaubens- oder Religionszusammenhängen.

Doch was genau ist mit MBSR, Mindfulness oder Achtsamkeitslehre gemeint?

Kern ist die bewusste Wahrnehmung des gegenwärtigen Moments auf eine ruhige, annehmende Weise und auch das Training, diesen Zustand aufrechtzuerhalten. Dabei werden emotionale Interferenzen aus vergangenen Erfahrungen, Zukunftsängste oder ablenkende Gedanken zwar wahrgenommen, aber nicht bewertet oder emotional verarbeitet.

MBSR ist eine strukturierte Methode zur Stressbewältigung und Körperwahrnehmung unter Nutzung von Achtsamkeit und Meditation, die in einem achtwöchigen Programm angewendet wird. Dabei werden in der Regel zweieinhalb Stunden angeleitete Übungen pro Woche und ein tägliches individuelles Training von 45 Minuten angesetzt. Bestandteile des Programms können Sitz- oder Gehmeditation, bewusste Atemübungen, Körperwahrnehmung (body scan) oder das achtsame Ausführen von Yogastellungen sein.

Die Achtsamkeitsmeditation hat seit ihren Ursprüngen eine weite Verbreitung erfahren. Besonders bei Berufsgruppen, die hohen Stress ausgesetzt sind, wie Spezialeinsatzkräften der Marine oder Polizei sowie Hochleistungssportlern konnte die Wirksamkeit von MBSR bereits gut belegt werden. [8, 9, 10, 11] Ergebnisse waren eine höhere Resilienz gegen Stress, eine kontrolliertere Affektivität und eine verbesserte Leistungsfähigkeit. Interessant ist auch, dass verschiedene innovative Unternehmen Mindfullness bereits seit Jahren fest in ihre Mitarbeiterführung integriert haben.

Auch in der Medizin hat Achtsamkeit dank einiger Pioniere wie Dr. Ronald Epstein von der medizinischen Fakultät der Universität Rochester in den USA bereits einen hohen Stellenwert. Nebst diversen Publikationen und Buchveröffentlichungen hat Dr. Epstein Mindfulness erfolgreich in das medizinische Curriculum implementiert. So können Medizinstudenten bereits während der Ausbildung kognitive Verhaltensmuster einüben, um dann positiv auf Stress reagieren zu können. Auch explizit in der Chirurgie wird Mindfulness bereits eingesetzt. Dr. Carter Lebares ist Direktorin des „Zentrums für Mindfulness in der Chirurgie“ an der University of California in San Francisco. In ihren Forschungsarbeiten untersucht sie die Zusammenhänge von Stress, Kognition und Resilienz und den Einfluss von Achtsamkeitsmeditation und MBSR auf diese Faktoren. [5, 13] Zudem kennt sie als praktizierende Chirurgin die realen Arbeitsbedingungen und Herausforderungen. In ihren Studien konnte sie zeigen, dass Assistenzärzte im ersten Ausbildungsjahr durch achtwöchige MBSR-Kurse ein subjektiv niedrigeres Stresslevel, bessere motorische Fähigkeiten und eine höhere Leistungsfähigkeit aufwiesen. Die Interventionen umfassten zwei Stunden moderierte MBSR-Kurse pro Woche und 20 Minuten Selbsttraining pro Tag.

Die vielversprechenden Effekte der Achtsamkeitsmeditation in der Chirurgie lassen sich vermutlich auf das besondere Anforderungsprofil in diesem Fach beziehen. Denn trotz des hohen Stresslevels sind eben auch Teamfähigkeit und Empathie wichtig. Eine Kombination, die dem Arzt viel abverlangt. Stress kann dabei durch die Chirurgie selbst, die Notwendigkeit schneller Entscheidungen, das Management von Komplikationen bis hin zum Tod des Patienten und den schmalen Grat zwischen gesunder Selbstreflexion und schützender Unantastbarkeit potenziert werden. Bis zu welchem Grad Stress als kompensierbar, ja sogar stimulierend und letztendlich positiv wahrgenommen, und ab wann er als Bedrohung im Sinne einer Kampf-oder-Flucht Reaktion verstanden wird, ist freilich sehr individuell. Allerdings ist anhaltender, überbordender Stress ab einem gewissen Punkt für jeden Menschen toxisch sowie mental und körperlich vernichtend.

Die Grundlage der Achtsamkeitsmeditation basiert auf der Hypothese, dass die Art und Weise, mit der ein Individuum auf Stress reagiert und ob es diesen eher als Herausforderung oder als Bedrohung ansieht, auf expliziten neurophysiologischen Abläufen beruht, welche trainiert werden können. Das heißt: Resilienz gegen Stress ist erlernbar.

Neurophysiologische und neuroanatomische Studien konnten belegen, dass regelmäßige Achtsamkeitsmeditation die Aktivität und Länge von Telomeren und damit die Zellalterung positiv beeinflusst. [14, 15] Zudem ließen sich im MRT Strukturveränderungen im Gehirn nachweisen. Messbare Veränderungen konnten in insgesamt acht Gehirnregionen festgestellt werden. [16, 17] Beispielsweise korrelierte eine Reduktion von wahrgenommenem Stress mit einer Abnahme von grauer Substanz in der Amygdala, die unter anderen eine wichtige Rolle bei der Reaktion und Verabeitung von Angst und Angstreaktionen spielt. Im Gegensatz dazu konnte mehr Dichte der grauen Substanz im Hippocampus und in den Regionen, die für Selbstwahrnehmung und Mitgefühl zuständig sind, beobachtet werden.

Wie lassen sich nun diese Erkenntnisse ganz praktisch für Chirurg:innen nutzen und welche Herangehensweise an das Thema empfiehlt sich? Zunächst hoffen wir, mit dem Artikel ganz allgemein Interesse an dem Thema und am Erlernen von Meditationstechniken zu wecken. Einige Informationen zu MBSR gibt es auch schon für Mediziner. Viele Krankenkassen verweisen bereits auf erstattbare MBSR-Programme. Auch im BDC planen wir bei entsprechender Nachfrage das Angebot von Seminaren und einer Podcast-Serie speziell für Chirurg:innen.

Viele Ansätze lassen sich aber ohne zusätzliche Ressourcen sofort umsetzen. Kurze Momente der Achtsamkeit lassen sich vielfach in unseren Tagesablauf integrieren. Zu Beginn bietet sich eine Atemmeditation an. Sich für einige Atemzüge völlig auf die Atembewegung, den Luftfluss, das Heben und Senken der Bauchdecke zu fokussieren, um den gegenwärtigen Moment wahrzunehmen, wirkt sich sofort beruhigend aus. Dies ist sowohl in der Abteilungsbesprechung als auch im OP vor der Time-out-Prozedur möglich. Vielleicht wird es eines Tages sogar ein Punkt der Time-out Prozedur sein, 30 Sekunden gemeinsam mit OP-Assistent:innen und Anästhesist:innen eine Atemmeditation durchzuführen. Das wäre ein sehr fortschrittlicher Ansatz.

Eine ähnliche Wirkung hätte eine Geh-Meditation. Dabei konzentriert man sich voll und ganz auf den Bewegungsablauf des Gehens und das Gleichgewicht bei würdevoller, gerader Körperhaltung, anstatt im Stechschritt zur nächsten Veranstaltung zu hetzen. Diese Übungen können sukzessive ausgeweitet werden und sich in einer täglichen Meditationspraxis manifestieren. Weitere Impulse können eine Grundhaltung der Dankbarkeit und Anerkennung für eigene und fremde Leistungen sein, die bewusst wahrgenommen und auch kommuniziert werden, sowie der echte und hingebungsvolle Versuch, sich wirklich in die Rolle des Gegenübers zu versetzen, insbesondere in Konfliktsituationen.

Nur eine kooperative, mental und körperliche gesunde Ärzteschaft wird den zweifelsfrei zunehmend komplexen Anforderungen der Gegenwart und Zukunft begegnen können. Achtsamkeitsmeditation kann ein Baustein für das Gelingen dieser Mammutaufgabe sein.

Literatur

[1]   Galaiya et al. Ann R Coll Surg Engl 2020; 102: 401-407
[2]   Lebares et al. J Am Coll Surg 2018; 226(1): 80-90
[3]   Kern et al. BDC/Umfrage Passion Chirurgie 2018 8 (12) 04_08
[4]   Leisha et al. J Am Coll Surg. 2016; 223(3): 440–451.
[5]   Lebares et al. JAMA Netw Open. 2019 May; 2(5): e194108
[6]   Blay et al. J Am Coll Surg. 2017 Feb; 224(2): 137–142
[7]   Bilimoria et al. JAMA Surg. 2016;151(3):273-281
[8]   Johnson et al. Am J Psychiatry 2014;171(8):844-853
[9]   Jha et al. Emotion 2010;10(1):54-64
[10]  Le Scanff et al. J appl Sport Psychol 2002;14(4):330-343
[11]  Guenthner et al. J Sport Behav. 2010;33(1):3-24
[12]  Renee et al. Med Educ. 2020 Feb; 54(2): 138–149.
[13]  Lebares et al. JAMA Surg. 2018 Oct; 153(10): e182734
[14]  Seppala et al. Journal of traumatic stress 27 (4), 397-405
[15]  Schutte et al. Psychoneuroendocrinology 2014 Apr;42:45-8
[16]  Holzel et al. Soc Cogn Affect Neurosci 2010 Mar;5(1):11-7
[17]  Fox et al. Neurosci Biobehav Rev 2014 Jun;43:48-73

Maus M, Maus E: BDC-Praxistest: Achtsamkeit (Mindfulness) in der Chirurgie. Passion Chirurgie. 2022 Oktober; 12(10): Artikel 05_01.

Autoren des Artikels

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PD Dr. med. Martin Maus

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