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Vorwort „Viel hilft viel“

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

es gehört zu den großen Schwächen sowohl wissenschaftlicher Arbeiten als auch öffentlicher Diskussionen, gravierende Fragen über die isolierte Betrachtung singulärer Parameter klären zu wollen – und zwar endgültig. Der Wunsch nach einer eindeutigen, allumfassenden und unumstößlichen Lösung scheint so tief im humanen Genom verankert, dass in diesen Fällen jede differenzierte, multilaterale Betrachtung verlassen und im fortgeschrittenen Stadium gar bekämpft wird. Die vielfältigen Debatten zu den Anti-Corona-Maßnahmen im Rahmen der Pandemie sind hier ein beredtes Beispiel, das sich aber auch in vielen anderen medizinischen Kontroversen wiederfindet.

Auch der Diskurs um Mindestmengen von chirurgischen und auch anderen ärztlichen Leistungen ist ein Beispiel, wie man eine komplexe Fragestellung – hier die medizinische Qualität – möglichst simpel mittels einer einzigen Stellschraube – hier die Mindestmenge – löst und normativ beendet. Dass das in umfassenden Betrachtungen fluider Systeme intellektueller Unsinn ist, wissen wir alle. Und trotzdem gelingt es den Protagonisten unter dem Beifall ihrer nutznießenden Claqueure, die Grundstruktur des Deutschen Gesundheitssystems dieser einer Frage zu unterwerfen und ebenbürtige Systembestandteile wie z. B. bauliche Strukturen medizinischer Zentren und Krankenhäuser oder die Sicherstellung von kompetentem ärztlichen Nachwuchs auszublenden.

Doch wir können ein qualifiziertes, erfolgreiches und ökonomisch vertretbares Gesundheitssystem nicht allein an Mindestmengen ausrichten. Die medizinische Vorhaltepflicht von Staat und Gesellschaft umfasst weit mehr. Gehen wir weiter diesen Weg, dann bleibt die aktuelle Krise in der Medikamentenversorgung nicht das letzte selbstfabrizierte Defizit. Stattdessen sind große, nachhaltige Probleme infrastruktureller und personeller Art geradezu vorprogrammiert.

Es ist also Zeit für einen Wandel in der öffentlichen Diskussion auch in Fragen der Gesundheit weg von einer normativen, terminierenden Haltung zurück zu einer deliberativen Politik alter Prägung, der eine vielfältigere Betrachtung zugrunde liegt und die einen argumentativen Austausch und am Ende einen konsensuellen Beschluss ermöglicht. Keine Rechtfertigung ist endgültig, kein Beschluss unausweichlich und keine Maßnahme alternativlos.

Um also auf die Erfolgsspur deliberativer Politik zurückzukehren, sind nuanciert erarbeitete Beiträge wie das anhängende Thesenpapier der Kollegen Benz und Staib zum Thema Viszeralchirurgische Zentren von großer Bedeutung. Wir sind stolz, dieses wertvolle Elaborat zur notwendigen Qualitätsdiskussion in der Chirurgie hier präsentieren zu dürfen. Die zugrunde liegende Idee muss auch noch nicht der Weisheit letzter Schluss sein, doch sie bietet einen sehr bedeutsamen Beitrag in einer mittlerweile stark emotionalisierten Auseinandersetzung um die Zukunft des Deutschen Gesundheitssystems. Wer sich tiefer mit dem Strukturwandel der Öffentlichkeit und deliberativer Politik beschäftigen möchte, dem sei zur Lektüre der jüngsten Publikation von Habermas geraten, der sich noch im hohen Alter von über 90 genötigt sah, den aktuellen Diskussions- und Entscheidungsformen einen konstruktiven Konterpart entgegenzustellen. Welch Segen, solche Denker in den Reihen zu wissen. Für’s Erste ist der Beitrag von Benz und Staib aber auch schon ein sehr guter Anfang. Die Kollegen haben gut vorgelegt, für die Verbreitung der Idee sind wir dann alle selbst zuständig.

Erhellende Lektüre wünschen

Prof. Dr. med. C. J. Krones

und

Prof. Dr. med. D. Vallböhmer

Positionspapier des Konvents der leitenden Krankenhauschirurgen (KLK)

Für den Großteil der komplexen operativen Eingriffe im Fachgebiet der Allgemein- und Viszeralchirurgie hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) beginnend mit dem Jahr 2023 neue Mindestmengen (MM) festgelegt oder bereits geplant (Ösophagus-, Pankreas-, Leber-, Dick-/ Enddarm- und Magenchirurgie). Dies betrifft Kliniken aller Versorgungsstufen, aber insbesondere die Schwerpunktversorger, die bisher die Hauptlast der Versorgung tragen. Es ist aus Sicht der Unterzeichner unverständlich, dass die Konsequenzen dieser tiefgreifenden Intervention für die Klinik- und Versorgungsstruktur bisher nicht angemessen untersucht wurden. Auf dem Boden der folgenden Kernthesen möchten wir daher einen Vorschlag unterbreiten, der sowohl dem Qualitätsinteresse, als auch dem Ziel einer nachhaltigen Entwicklung der viszeralchirurgischen Versorgungsstruktur Rechnung trägt [1].

Thesen

  • Die aktuellen Mindestmengenänderungen sind aufgrund der vorliegenden Evidenz nicht begründbar. Für die Ösophaguschirurgie fußt sie auf einer Arbeit, die keinen signifikanten Unterschied zwischen der jetzigen (n=10) und der ab 2023 gültigen Mindestmenge (n=26) gezeigt hat [2]. Hingegen wäre die aktuelle Erhöhung der MM Pankreaschirurgie (n=20) zu niedrig, wenn ausschließlich der Mengenaspekt zugrunde gelegt würde [3].
  • Die aktuellen MM-Regelungen sind nicht verhältnismäßig: Für die Ösophaguschirurgie könnte ein -nichtsignifikanter – Rückgang um 46 Todesfälle pro Jahr auf 264 erwartet werden. Nach kolorektalen Eingriffen versterben aber im Jahr um den Faktor 20 mehr Patienten, nämlich n= 6.186 (!). Hier besteht keine MM-Regelung oder eine offizielle Empfehlung zur Behandlung in zertifizierten Zentren mit ihren nachgewiesen besseren Behandlungsergebnissen [4]. Ebenso ist der Eingriff mit der höchsten Letalitätsrate, die Gastrektomie (Letalität 11,4%), nicht berücksichtigt [5].
  • Bei der Erstellung der MM-Regelungen blieb der „positive Kollateraleffekt“ von ähnlich komplexen Operationen, die in einer Klink durchgeführt werden, unberücksichtigt. In einer US-amerikanischen Arbeit konnte gezeigt werden, dass die Sterblichkeit bei Pankreaseingriffen sinkt, wenn zusätzlich andere komplexe Operationen in der Klinik durchgeführt werden [6].
  • Bei den aktuellen Regelungen bleiben die nachgewiesenen Einflussfaktoren der Struktur- und Prozessqualität unberücksichtigt, die für einen Großteil der infrage stehenden MM den Haupteinfluss auf die Ergebnisqualität darstellen [7].
  • Fehlanreize, die durch MM-Regelungen entstehen, können sehr leicht den gewünschten Qualitätseffekt konterkarieren. Dies gilt besonders für eine möglicherweise sinkende Resektionsrate nach Einführung von MM (z.B. Ösophagusresektion, Pankreasresektion). Diese ist bei mehreren Tumorentitäten als ein wichtiger Einflussfaktor für das Behandlungsergebnis auf epidemiologischer Ebene nachgewiesen [8, 9].
  • Der Verlust der Expertise für die komplexe Oberbauchchirurgie in den Kliniken der Schwerpunktversorgung (mit der Ausbildung von isolierten Organchirurgen/-innen als „Schmalspurexperten nach angloamerikanischem Vorbild“) hat unabsehbare Folgen für die Diagnostik und Behandlung von Patienten/-innen mit unklaren und gleichermaßen dringlichen abdominellen Erkrankungen. Es ist unklar, wer die Behandlungsführung für diese Fälle in Zukunft übernehmen soll.
  • Das Fachgebiet der Viszeralchirurgie und damit der Zuschnitt viszeralchirurgischer Abteilungen in Kliniken ist unter den genannten Voraussetzungen nicht mehr zu halten. Auch die Weiterbildung des chirurgischen Nachwuchses wird empfindlich eingeschränkt werden. Derzeit gibt es keine systematischen Überlegungen, wie diese Herausforderung adressiert werden soll.

Hieraus ergibt sich, dass isolierte MM-Regelungen den komplexen Anforderungen zur qualitativen Verbesserung der medizinischen Versorgung nicht gerecht werden können. Vielmehr zerstört die unkoordinierte Umsetzung einer Vielzahl von MM medizinische Infrastruktur und Expertise und greift unvernünftig in die derzeit schon labile Krankenhauslandschaft ein. Es sind daher intelligentere Denkansätze als isolierte MM gefragt.

Vorschlag

Zunächst sollte eine Gesamtbetrachtung des chirurgischen/medizinischen Versorgungsangebots mit Quantifizierung und Priorisierung der Qualitätsproblematik erfolgen.

Dabei lauten die beiden Kernfragen:

  1. Wie viele Patienten/-innen versterben in den einzelnen Krankheits- bzw. Operationsgruppen ohne Umsetzung der MM?
  2. Wie viele Patienten/-innen würden – potenziell – durch Umsetzung der MM in Kombination mit Strukturmaßnahmen inklusive Zertifizierungen überleben?

Zudem sollten der oben erläuterte positive Kollateraleffekt und die Auswirkung möglicher Fehlanreize (s. o.) in die Analyse einbezogen werden. Weiterhin müssen die Auswirkungen auf den Zuschnitt des chirurgischen Versorgungsangebots und Fahrzeiten betrachtet werden.

Diesem Ansatz entsprechend wird ein Drei-Stufen-Modell vorgeschlagen (Tabelle 1). Die MM unterteilen sich in eher geringe Einzel-MM (z. B. n=20 für Schilddrüsenoperationen) und in größere MM-Pakete für eine gesamte Komplexitätsgruppe (z. B. n=100 für die genannten komplexen viszeralchirurgischen Eingriffe im Haus der Stufe 2). Diese Mengenvorgaben müssen entsprechend der oben vorgeschlagenen Analyse modifiziert werden. Zusätzlich zu den genannten Vorgaben sollten hochwertige Zertifizierungen finanziell gefördert werden. Ein Qualitätsmanagementsystem mit Dokumentation der Ergebnisqualität nach aktueller Evidenzlage ist obligat, ebenso interdisziplinäre Teams (Tumorboard, Ernährung, Schmerztherapie etc.) Für hochkomplexe Eingriffe sind regelmäßige Teamtrainings zum Komplikationsmangement und für chirurgische Skills verbindlich [10]. Subspezialisierungen innerhalb von Kliniken bzw. Verbünden sollten ebenso unterstützt werden.

Tab. 1: Drei-Stufen-Modell einer gestaffelten viszeralchirurgischen Versorgung in Deutschland, die in jeder Stufe neben wenigen Einzel-Mindestmengen (MM, z.B. n= 10 Rektumesektionen) ein stufenadaptiertes viszeralchirurgisches „Gesamtpaket“ beinhaltet (z.B. in Stufe 3 insgesamt n=65 komplexe Resektionen Ösophagus, Magenmalignome, Leber, Pankreas); BD 24/7 = Bereitschaftsdienst 24h, 7 Tage; FA-VC (RD) = Facharzt Viszeralchirurgie im Rufdienst; ITS = Intensivtherapie-Station

Komplexität

OP-Spektrum stationär

MM

Strukturvorgaben

Notall-/ Intensivversorgung

Stufe 1

niedrig

Primäre Bauchwandhernien

Cholezystektomien

Benigne Koloproktologie

Kleinere laparoskopische Eingriffe

MM Summe n=100

keine

BD 24/7

Keine VC-Notfälle

Stufe 2

mittel

Rektumresektionen

Kolonresektionen

Bariatrische Chirurgie

Antirefluxchirurgie

Komplexe Narbenhernien

Schilddrüsenchirurgie

Mageneingriffe (benigne)

MM Summe n=100

n=10

n=20

BD 24/7

FA-VC 24/7 (RD)

Interventionelle Endoskopie

G-BA Stufe 1

Reguläre VC-Notfallversorgung

ITS mit Beatmungsmöglichkeit

Stufe 3

hoch

Ösophaguseingriffe

Lebereingriffe

Pankreaseingriffe

Mageneingriffe (maligne)

MM Summe n=65

n=10

n=10

n=10

n=10

FA-VC 24/7 (BD)

CT, MRT 24/7

Interventionelle Angiografie 24/7

Interventionelle Endoskopie 24/7

G-BA Stufe 2

Reguläre VC-Notfallversorgung

ITS entsprechend Komplexbehandlung

Mit diesem Modell sehen wir die Möglichkeit, einerseits eine weitere geforderte Qualitätsverbesserung für die Allgemein- und Viszeralchirurgie umzusetzen und andererseits eine nachhaltige und flexible Entwicklungsmöglichkeit für die Versorgungsstruktur und das Fachgebiet zu schaffen. Auch die Weiterbildung in der Allgemein- und Viszeralchirurgie muss breit gefächert und damit attraktiv bleiben.

Wir empfehlen daher dringend, die Einführung isolierter Mindestmengen zugunsten des hier beschriebenen integrativen Prozesses mit einem Drei-Stufen-Modell zu beenden, bevor die in Deutschland hochentwickelte Kliniklandschaft irreversiblen Schaden genommen hat.

Böblingen und Esslingen am Neckar, den 4. Januar 2023

Literatur

[1]   Benz S, Mindestmengen aus der Sicht des Spezialisten am kleineren Haus. Der Chirurg 2022 (angenommen)
[2]   Nimptsch U, Haist T, Krautz C, Grutzmann R, Mansky T, Lorenz D. Hospital Volume, In-Hospital Mortality, and Failure to Rescue in Esophageal Surgery. Deutsches Arzteblatt International 2018; 115: 793-800.
[3]   Krautz C, Nimptsch U, Weber GF, Mansky T, Grutzmann R. Effect of Hospital Volume on In-hospital Morbidity and Mortality Following Pancreatic Surgery in Germany. Annals of Surgery 2018; 267: 411-7.
[4]   Trautmann F, Reissfelder C, Pecqueux M, Weitz J, Schmitt J. Evidence-based quality standards improve prognosis in colon cancer care. European journal of surgical oncology: the journal of the European Society of Surgical Oncology and the British Association of Surgical Oncology 2018; 44: 1324-30.
[5]   Baum P, Diers J, Lichthardt S, Kastner C, Schlegel N, Germer CT, et al. Mortality and Complications Following Visceral Surgery: A Nationwide Analysis Based on the Diagnostic Categories Used in German Hospital Invoicing Data. Deutsches Arzteblatt International 2019; 116: 739-46.
[6]   de Geus SWL, Hachey KJ, Nudel JD, Ng SC, McAneny DB, Davies JD, et al. Volume of Pancreas-Adjacent Operations Favorably Influences Pancreaticoduodenectomy Outcomes at Lower Volume Pancreas Centers. Annals of Surgery 2020
[7]   Hoshijima H, Wajima Z, Nagasaka H, Shiga T. Association of hospital and surgeon volume with mortality following major surgical procedures: Meta-analysis of meta-analyses of observational studies. Medicine 2019; 98: e17712.
[8]   De Jong EJM, Geurts SME, Van Der Geest LG, Besselink MG, Bouwense SAW, Buijsen J, et al. A population-based study on incidence, treatment, and survival in ampullary cancer in the Netherlands. European Journal of Surgical Oncology 2021; 47: 1742-9.
[9]   Benitez Majano S, Di Girolamo C, Rachet B, Maringe C, Guren MG, Glimelius B, et al. Surgical treatment and survival from colorectal cancer in Denmark, England, Norway, and Sweden: a population-based study. The Lancet Oncology 2019; 20: 74-87.
[10] Hanna GB, Mackenzie H, Miskovic D, Ni M, Wyles S, Aylin P, et al. Laparoscopic Colorectal Surgery Outcomes Improved After National Training Program (LAPCO) for Specialists in England. Annals of Surgery 2020

Benz S, Staib L: BDC-Praxistest: Viszeralchirurgische Zentren statt isolierte Mindestmengen. Passion Chirurgie. 2023 Januar/Februar; 13(01/02): Artikel 05_01.

Autoren des Artikels

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Prof. Dr. med. Stefan Benz

ChefarztKlinik für Allgemein-, Viszeral-, Thorax- und KinderchirurgieKlinikverbund SüdwestBunsenstraße 12071032Böblingen kontaktieren
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Prof. Dr. med. Ludger Staib

Vorsitzender des Konvents der leitenden Krankenhauschirurgen (KLK)Chefarzt der Klinik für Allgemein- und ViszeralchirurgieKlinikum EsslingenHirschlandstraße 9773730Esslingen kontaktieren

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