01.12.2024 Aus-, Weiter- & Fortbildung
BDC-Praxistest: Modellprojekt sektorenübergreifender chirurgischer Weiterbildungsverbund Kiel

Das Thema Weiterbildung und Nachwuchsgewinnung in der Chirurgie wird seit vielen Jahren bestimmt durch eine aufgehende Schere zwischen erhöhtem Bedarf und schrumpfenden Ressourcen. Dies wird im Wesentlichen definiert über die demografische Entwicklung, also älter und kränker werdende Patienten auf der einen und schwindende zur Verfügung stehende ärztliche Ressourcen auf der anderen Seite. Warum das so ist, wurde in den letzten Jahren vielfach untersucht, die Erkenntnisse sind nicht neu [10]. Neben den üblichen Verdächtigen wie veränderte Work-Life-Balance und Einstellung zur Familie gibt es leider auch hausgemachte Faktoren. Bezeichnete sich früher die Chirurgie gerne als „Krone der Medizin“, so können sich heute immer weniger junge Kolleginnen und Kollegen eine Tätigkeit in unserem Fachgebiet vorstellen. Der Attraktivitätsverlust beginnt bereits während des Studiums. Zum Anfang eines Medizinstudiums interessieren sich noch mehr als 25 % der Studierenden für eine operative Tätigkeit, am Ende des Studiums schrumpft dieser Anteil dann auf unter 10 % [9]. Dabei ist der Hauptfaktor, der die jungen Kolleginnen und Kollegen das Berufsfeld wechseln lässt, die Qualität der angebotenen Weiterbildung [1, 4].
Die zunehmende Spezialisierung und eine immer komplexer werdende Medizin erfordern aber eine solide Grundausbildung und ausreichende Vermittlung von Kompetenzen, die für die Ausübung unseres Faches erforderlich sind [2]. Erschwerend kommt hinzu, dass durch die in letzter Zeit forcierte, politisch gewollte und letztendlich auch sinnvolle Ambulantisierung viele Eingriffe und Kompetenzen im Krankenhaus nicht mehr angeboten und somit auch nicht erworben werden können. Die anstehende Krankenhausreform und die seit Anfang 2024 erfolgte Implementierung des neu eingeführten § 115f wird diesen Trend weiter beschleunigen. Dies wiederum hat massive Auswirkungen auf die Weiterbildung des fachärztlichen Nachwuchses. Selbst Krankenhäuser der Maximalversorgung werden zukünftig nicht mehr in der Lage sein, eine allumfassende Weiterbildung anbieten zu können. Dies gilt ganz besonders für den chirurgischen Bereich mit der Notwendigkeit des Erwerbs von handwerklichen Kompetenzen. Daher werden zwingend intersektorale Weiterbildungsverbünde konzipiert werden müssen, d.h. junge Kolleginnen und Kollegen beginnen ihre Weiterbildung in einer Klinik oder Praxis und werden dann für einen definierten Zeitraum in eine Einrichtung des anderen Sektors wechseln müssen [5].
Hier stehen die Vertragsärztinnen und -ärzte, zunehmend aber auch die Kliniken vor dem Problem einer fehlenden Finanzierung. Vor dem Hintergrund einer budgetierten Gesamtvergütung ist es illusorisch junge Kolleginnen und Kollegen auch nur annähernd in den Praxen nach Tarif bezahlen zu können. Auch seitens der entleihenden Kliniken können die Kosten für eine Praxistätigkeit einer ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nachvollziehbar nicht übernommen werden, Weiterbildung ist schon unter den gegebenen Bedingungen unterfinanziert [7].
Einen Ausweg kann hier der § 75a im SGB V darstellen. Ursprünglich zur Sicherung der hausärztlichen Versorgung vom Gesetzgeber eingeführt wurde dieser vor einigen Jahren auch für grundversorgende Fachärzte geöffnet [3]. Im Gegensatz zur Förderung der Weiterbildung in der Allgemeinmedizin sind diese Stellen aber stark limitiert. Stehen bundesweit für die Allgemeinmedizin mindestens 7.500 Plätze zur Verfügung, so gibt es für alle Facharztbereiche maximal 2.000 Stellen, von denen mindestens 250 für die Pädiatrie vorgesehen sind. Dies bedeutet für kleines Land wie Schleswig-Holstein, dass förderungsfähige Stellen in chirurgischen Weiterbildungsbereichen aktuell nur im niedrig einstelligen Bereich vorliegen und im Gegensatz zur Allgemeinmedizin somit planbar von den Weiterbildungsbefugten nicht angeboten werden können, denn ist der Topf für das laufende Jahr leer muss im Folgejahr neu beantragt werden. Ohne eine verbindliche Finanzierung kann aber eine Weiterbildung im Vertragsarztsektor in ausreichendem Maße nicht gewährleistet werden und so kann derzeit den weiterzubildenden Ärztinnen und Ärzten keine sichere Perspektive für eine sektorenübergreifende Weiterbildung angeboten werden.
Bereits vor knapp zehn Jahren wurde in Schleswig-Holstein ein bundesweit viel beachtetes intersektorales Modellprojekt auf den Weg gebracht, die Chirurgische Verbundweiterbildung Kiel. Initiatoren waren die Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) und das vertragsärztlich geleitete MVZ Chirurgie (MVZ), beide Institutionen in Kiel [6]. Im November 2015 wurde von der Ärztekammer Schleswig-Holstein (ÄKSH) eine gemeinsame Verbundweiterbildungsbefugnis erteilt für das Fachgebiet O und U über insgesamt 48 Monate. Der Weiterzubildende wurde dabei nicht im MVZ angestellt, sondern erlernte oder vertiefte fehlende Kompetenzen – in erster Linie operative Eingriffe – im Rahmen einer Hospitation. Dabei gelang es entgegen allen Widerständen zu demonstrieren, dass eine solche sektorenübergreifende Ausgestaltung der Weiterbildung auch tatsächlich funktioniert. Immer wieder ins Feld geführte Argumente gegen eine Weiterbildung im vertragsärztlichen Sektor, wie z.B. Pflicht zur persönlichen Leistungserbringung oder Probleme mit der Berufshaftpflichtversicherung oder Anerkennung von Weiterbildungszeiten durch die Ärztekammer, konnten ausgeräumt werden [5].
Dieses Modell soll nun weiterentwickelt werden mit dem Focus auf eine gesicherte Finanzierung – denn ohne eine solche kann die intersektorale Weiterbildung nicht in die Realität überführt werden kann. Aufsetzend auf den Erfahrungen aus 2015 wurde mit Unterstützung der Ärztekammer erneut ein intersektoraler Weiterbildungsverbund O und U unter Beteiligung von UKSH und MVZ implementiert. Die Vertragsarztpraxis hat beim Zulassungsausschuss eine Rotationsstelle im Rahmen des § 75a beantragt. Dem wurde von der Abgeordnetenversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung zugestimmt und ein entsprechender Passus wurde im Statut über die Durchführung von Gemeinschaftsaufgaben der KVSH aufgenommen [8]. Dies bedeutet, dass die Weiterzubildenden zwar formal jedes Mal dem Zulassungsausschuss gemeldet werden müssen mittels Antrag nach § 75a, die Genehmigung und finanzielle Förderung ist aber gesichert und nicht abhängig vom Füllzustand eines Topfes.
Weiterzubildende beginnen in diesem Modell ihre Tätigkeit in der Klinik. Nach Ableistung von Common Trunk und Zeiten in ZNA und auf der Intensivstation rotieren diese nach einem festen Curriculum im 4. oder 5. Weiterbildungsjahr für 12 Monate in die vertragsärztliche Praxis, verbunden mit einem Arbeitgeberwechsel. Dort erfolgt der Erwerb von operativen, aber auch konservativen Kompetenzen, die typischerweise im vertragsärztlichen Sektor erbracht werden. Nebenbei lernen die jungen Kolleginnen und Kollegen so auch das Leben und Arbeiten im anderen Sektor kennen. Durch die Förderung erhält die Praxis aktuell einen Zuschuss in Höhe von 5.400 € pro Monat, wenn sie sich verpflichtet, die Weiterzubildenden nach Tarifvertrag Kommunale Arbeitgeber (TV-VKA) zu entlohnen [11]. Damit wurde der Weg geebnet für eine planbare und auskömmlich finanzierte intersektorale Rotationsstelle und so konnte am 01. Juli dieses Jahres erstmals eine junge Kollegin ihre ambulante Weiterbildung beginnen.
Trotz dieser erfreulichen Entwicklung muss aber klar sein, dass es sich auch hier nur um ein Modellprojekt handeln kann, was nicht geeignet ist in die Versorgungsrealität überführt zu werden. Dieses Modell wurde zwar von der Gesundheitsministerkonferenz (GMK) auf dem diesjährigen Treffen in Travemünde favorisiert [12], die Speisung des dafür notwendigen Topfes aber birgt durchaus Potential für Kritik. So erfolgt die Finanzierung im vorgestellten Fall paritätisch ausschließlich über die gesetzlichen Krankenkassen und aus den Honoraren der Vertragsärzte. Eine qualitativ hochwertige Facharztweiterbildung aber muss im Interesse der gesamten Gesellschaft sein. Es ist daher zwingend erforderlich alternative Finanzierungsmöglichkeiten zu diskutieren.
In vielen anderen entwickelten Ländern haben ähnliche Entwicklungen im Gesundheitssystem zu einer geänderten Erwartungshaltung der Gesellschaft geführt. Dort wird die Qualität der Weiterbildung als ein Hauptfaktor für Patientensicherheit gesehen [13] und konsequenterweise auch eine Finanzierung sichergestellt. Die Ansätze gehen dabei von der Anforderung an Kliniken geschützte Zeit für Weiterbildung bereit zu stellen, über finanzielle Unterstützung der Weiterzubildenden bis hin zur Vergütung von Kliniken für die Weiterbildung von Assistenzärzten- und Ärztinnen. Die Weiterbildung der jungen Kolleginnen und Kollegen wird als eine Investition in die zukünftige Gesundheitsversorgung der Bevölkerung und damit als Teil der Daseinsfürsorge gesehen.
Die dafür notwendige gesamtgesellschaftliche Diskussion in Deutschland scheint erst langsam in Gang zu kommen. Zu beobachten ist dies nicht nur auf den großen Kongressen der medizinischen Fachgesellschaften oder dem Deutschen Ärztetag, sondern auch in der Laienpresse oder auf Bürgerforen insbesondere in ländlichen Bereichen. Hier wird immer häufiger die Frage gestellt, wie die medizinische Versorgung auf einem qualitativ hohen Niveau gesichert werden kann. Das A und O ist dabei zuvorderst ein gut aus- und weitergebildeter Nachwuchs. Der BDC und viele weitere große medizinische Berufsverbände bringen sich hier ein und versuchen die Diskussion in die Gesellschaft zu tragen und zu befeuern, aktuell mit einer kreativen Weiterbildungskampagne [14].
Die Politik muss sich rasch und mit hoher Priorität dieses Themas annehmen, sonst drohen in Zeiten der zunehmenden Ambulantisierung und anstehenden Krankenhausreform erhebliche Einschränkungen der Gesundheitsversorgung. Und dies dürfte zu großem Unmut in der Bevölkerung führen, waren wir doch alle in der Vergangenheit zu Recht stolz auf unser Gesundheitssystem.
Literatur
[1] Youssef Y, Hättich A, Friemert B.: Orthopädie und Unfallchirurgie – Zehnkampf der Medizin. springermedizin.de. Im Internet: https://www.springermedizin.de/orthopaedie-und-unfallchirurgie-zehnkampf-der-medizin/23842880; Stand: 19.02.2024
[2] Perl M, Stange R, Niethard M, et al.: Weiterbildung im Fach Orthopädie und Unfallchirurgie. springermedizin.de. Im Internet: https://www.springermedizin.de/weiterbildung-im-fach-orthopaedie-und-unfallchirurgie/8056848; Stand: 19.02.2024
[3] DKG, KBV, GKV: Vereinbarung zur Förderung der Weiterbildung gemäß § 75a SGB V. Stand 29. November 2022
[4] Brandt O, Tjardes T, Grimaldi G, et al.: Risikofaktorenanalyse zu den Gründen des Ausscheidens aus der fachärztlichen Weiterbildung im Fach Orthopädie und Unfallchirurgie. Die Unfallchirurgie 2023 126 S. 788–798
[5] Schmitz, RW, Müller, M, Seekamp, A: Intersektorale Versorgung von unfallchirurgischen Patienten. Passion Chirurgie 2022 April, 12(04): Artikel 03_03
[6] Schmitz, RW: Chirurgische Verbundweiterbildung in Kiel. Passion Chirurgie 2015 August, 5(08): Artikel 02_08
[7] Bridges Matthew, Diamond D.: The financial impact of teaching surgical residents in the operating room. The American Journal of Surgery 1999; 177: 28–32. doi:10.1016/S0002-9610(98)00289-X
[8] Kassenärztliche Vereinigung Schleswig-Holstein: Statut über die Durchführung von Gemeinschaftsaufgaben der KVSH. Stand: 22.11.2023
[9] Schmidt, J, Hartmann, S: Chirurgie – Attraktivitätswandel durch Lehrwandel? Passion Chirurgie 2019 Juni 9(06): Artikel 05_02
[10] Weise, K, Niethard, F.U: Zum Nachwuchsmangel in Unfallchirurgie und Orthopädie. Z Orthop Unfall 2010 148 S. 17–19
[11] Marburger Bund: Ärztinnen und Ärzte an den kommunalen Krankenhäusern im Geltungsbereich des TV-Ärzte/VKA. Entgelttabelle Stand 23.05.2023
[12] Gesundheitsministerkonferenz Beschlüsse 2024 TOP 7.3: Erhöhung geförderter Weiterbildungsstellen. Im Internet: https://www.gmkonline.de/Beschluesse.html?id=1580&jahr=2024
[13] Ludwig, J, Schmitz, RW: Strukturierter intersektoraler Weiterbildungsverbund in O und U. Passion Chirurgie 2024 April 14(04): Artikel 05_02
[14] https://www.bdc.de/wp-content/uploads/2024/09/BDC-Final-Audio-v8-H.264.mp4
Schmitz R: BDC-Praxistest: Modellprojekt sektorenübergreifender chirurgischer Weiterbildungsverbund Kiel. Passion Chirurgie. 2024 Dezember; 14(12/IV): Artikel 05_01.
Autor des Artikels

Dr. med. Ralf Wilhelm Schmitz
Referatsleiter Niedergelassene ChirurgenMVZ Chirurgie KielSchönberger Str. 1124148Kiel kontaktierenWeitere aktuelle Artikel
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