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Vorwort – Alles virtuell oder was?

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Lehrformate aller Art unterliegen einem ständigen Reformdruck. Neue Lehrinhalte, reformierte edukative Konzepte, technische Innovationen und gesellschaftliche Erwartungen von Lernenden und Lehrenden sind die Treiber einer ständigen Bewegung. Dem Reformeifer steht der Traditionalismus entgegen, bewährte Strukturen zu erhalten. Im ewigen Wettstreit scheinen manchmal 80 Millionen Studienräte zu konkurrieren. Aber eine einzige Wahrheit existiert, wie so oft, natürlich nicht. Lehrreformen stellen kein zwingendes Elaborat, sondern vielmehr ein Konvolut an Prämissen und Entscheidungen. Jede politisch getriebene Schulreform diene als Beispiel.

Die Covid-Pandemie hat diesen fließenden Reformprozess ganz erheblich beschleunigt. Die strengen Isolationsmaßnahmen führten zu einem Boom digitaler und virtueller Ausgestaltungen, ohne die eine Fortführung auch der universitären Lehre nicht möglich gewesen wäre. Die Pandemie ist jetzt beendet – aber stellt man jetzt alles wieder auf Anfang? Nein, so sollte und wird es nicht kommen. Auch wenn manche innovative Lehrvermittlung nur der Improvisation geschuldet war, lässt sich die Zeit nicht einfach zurückdrehen. Die Gunst der Stunde nutzen heißt vielmehr, Neues mit Bewährtem zu kombinieren.

Blended Learning at its best? Auch hier kann es keine eindeutigen Antworten geben – zu vielfältig und unterschiedlich sind die Bedingungen und Möglichkeiten. Klar ist nur – Hörsäle und Katheder kriegt man nicht wieder so einfach besetzt, aber Praxis lernt man auch nicht am Rechner. Diese Diskrepanz zu überwinden benötigt Engagement und Kreativität. Ein guter Grund, über den Tellerrand zu blicken – heute nach Mainz. Das Autorenteam hat schon in der Pandemie Konzeptionen publiziert, um die chirurgische Lehre zu erhalten. Jetzt folgt ihr Resümee für die Zeit danach.

Erhellende Lektüre wünschen

Prof. Dr. med. C. J. Krones und

Prof. Dr. med. D. Vallböhmer

Welche Änderungen wir aus der Pandemie beibehalten sollten – und welche nicht

Die Lehre in der Chirurgie hat in den vergangenen Jahren durch die Digitalisierung und die COVID-19-Pandemie große Veränderungen erfahren. Nach Beendigung des COVID-19-bedingten Social Distancing stellt sich nun die Frage: Chirurgische Lehre – quo vadis? Rückkehr zu altbewährten Strukturen oder den Wind der Veränderung nutzen? Die chirurgischen Fächer leiden unter Nachwuchsmangel und müssen daher ihre Möglichkeiten, das Interesse der Studierenden zu wecken, nutzen.

Chirurgische Lehre – ein Dilemma zwischen Theorie und Praxis

Die Chirurgie nimmt seit jeher eine zentrale Position im Studium der Humanmedizin ein. Mit einem Pflichttertial im praktischen Jahr, einem beträchtlichen Fragenanteil von ca. 5 bis 7 % im zweiten Staatsexamen [1] und als mündliches Prüfungsfach im dritten Staatsexamen ist die Chirurgie in der aktuellen sowie der kommenden Approbationsordnung gemeinsam mit der Inneren Medizin eines der zentralen Fächer des Humanmedizinstudiums. Doch ähnlich wie in der Inneren Medizin haben sich aus einem „Mutterfach“ Chirurgie im Verlauf der letzten Jahrzehnte viele hochspezialisierte Sparten ausdifferenziert, sodass mittlerweile an den meisten Universitätsklinika rund zehn chirurgische Disziplinen im Fach „Chirurgie“ zusammengefasst werden.

Von den Studierenden wird in den Staatsexamina teils hoch komplexes Wissen erwartet, das einen festen Grundstock aus Anatomie und Physiologie benötigt und einen breiten Umfang theoretischer Lernziele mit sich bringt. Doch die Chirurgie ist auch ein praktisches Fach mit vielen Fertigkeiten, die erlernt werden sollten und auch müssen, bisher aber kaum in Prüfungen abgebildet werden. Die meisten Chirurginnen und Chirurgen haben ihren faszinierenden Beruf nicht zuletzt aufgrund des praktischen Arbeitens, der zu erlernenden Fingerfertigkeit und der körperlichen und geistigen Herausforderung des Operierens gewählt.

Dieser praktische Aspekt der Chirurgie bleibt im Studium der Humanmedizin weiterhin sträflich unterrepräsentiert. Das Interesse der Studierenden an der Chirurgie allein mit der Masse an theoretischen Lernzielen zu wecken, stellt eine kaum zu überwindende Hürde dar. Die zusätzlichen Überschneidungen der Lernziele mit den angrenzenden internistischen Fächern (z. B. Herzchirurgie und Kardiologie, Viszeralchirurgie und Gastroenterologie usw.) bieten einen guten Einblick in die Interdisziplinarität des klinischen Alltags, beinhalten aber dabei häufig auch das Problem einer zunehmenden Vermischung. Die Einzigartigkeit der Chirurgie bleibt so auf der Strecke. In den Vordergrund rücken stattdessen dann die vermeintlich schlechteren Arbeitsbedingungen in den chirurgischen Fächern gegenüber ihren internistischen Counterparts. Die chirurgischen Fächer erscheinen für eine Vielzahl der Studierenden damit so unattraktiv, dass der Nachwuchsmangel ein kontinuierliches Problem ist.

Einfluss der Pandemie auf die Lehre

Im Rahmen der COVID-19-Pandemie wurden Schul- und Lehranstalten aller Art weltweit abrupt aus ihrem Tagesgeschäft gerissen. Lehrkonzepte wie der Unterricht von Grundschülern via Videokonferenz wären vor fünf Jahren von den meisten Deutschen noch belächelt worden. Im Jahr 2020 wurden sie innerhalb kürzester Zeit zur notgeborenen Realität. Auch die Universitätsklinika mussten neben der regulären Krankenversorgung, der Behandlung COVID-19-Erkrankter und der Implementierung weitreichender Hygienemaßnahmen die komplette Lehre umstrukturieren. Die chirurgischen Fächer waren dabei wie kaum andere eingeschränkt, denn hier fielen das Erlernen praktischer Fertigkeiten und die Hospitationen im Operationssaal in weiten Teilen weg. Die chirurgische Lehre unter diesen Bedingungen aufrechtzuerhalten, war eine extreme intellektuelle und logistische Herausforderung.

Die Autoren haben sich in dieser Situation für einen bewussten Fokus auf praktische Lehre in der Chirurgie ausgesprochen und ihre Lehrkonzepte während der Pandemie bereits frühzeitig vorgestellt [2, 3]. Auch andere Autoren aus den unterschiedlichsten Fächern haben innovative Lehrkonzepte unter Pandemiebedingungen erarbeitet und publiziert [4–6]. Allen gemein ist ein großer Organisationsaufwand für Umstrukturierungen, der nur mit einem starken Engagement der Lehrenden kombiniert mit dem Willen der Studierenden, sich auf neue Konzepte einzulassen, zu leisten war. Dabei ist zu beachten, dass in keiner Publikation der Zustand der Lehre in der Pandemie als akzeptabler Dauerzustand angesehen wird.

Kronenfeld und Kolleg:innen konnten zeigten, dass die Prüfungsergebnisse nach E-Learning-basierten Lehrkonzepten keine signifikanten Unterschiede gegenüber der Präsenzlehre zeigten, diese bereiteten also gut auf theoretisch ausgelegte Prüfungen vor [7]. Auf explizite Nachfrage räumten die Autoren in einem weiteren Artikel allerdings ein, dass wichtige interpersonelle Fähigkeiten wie Kommunikation mit Patienten:innen, Angehörigen und Kolleg:innen nicht im selben Ausmaß durch Online-Lehre abgebildet und der klinische Blick nicht am heimischen PC geschärft werden könne [8]. Dies unterstreicht die nicht nur in Deutschland zu geringe Praxisorientierung von Prüfungen im Medizinstudium.

Hernandez und Kolleg:innen haben sich insbesondere mit der chirurgischen Lehre Studierender in fortgeschrittenem Ausbildungsstand beschäftigt, die zunächst eine virtuelle Rotation und dann eine verkürzte Präsenzrotation in die Chirurgie absolvierten. Nach virtueller Rotation fanden die Autoren sowohl im Bereich theoretischer Kenntnisse als auch praktischer Fertigkeiten beträchtliche Lücken vor, die jedoch nach der Präsenzrotation signifikant verbessert waren [9].

Wind of Change – Neubewertung alter Strukturen

Die Covid-19-Pandemie wurde am 05.05.2023 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für beendet erklärt [10]. Stück für Stück sind die verschärften Hygienemaßnahmen auch in Krankenhäusern zurückgenommen worden und Normalität ist in den klinischen Alltag eingekehrt.

Doch wie steht es um die Lehre? Hier teilen sich die Meinungen. Einerseits sehnen viele die präpandemische Lehre herbei – Präsenzlehre ggf. unterstützt mit Lehrmaterialien online. Die Argumente sind bekannt und stark. Das konventionelle Konzept ermöglicht im Idealfall eine enge Interaktion von Studierenden und Lehrenden, die Lehrenden werden greifbarer und können ihre Vorbildfunktion besser ausfüllen. Die reine Online-Lehre wird dagegen häufig als unpersönlich wahrgenommen [11]. Auf der anderen Seite stehen neu angeschaffte, digitale Lehrmedien und aufwändig erarbeitete Lehrkonzepte. Die Stundenpläne wurden zudem umfangreich angepasst, um Querschnittsfächern und zusätzlichem Kleingruppenunterricht ausreichenden Platz zu schaffen. Die ehemaligen Zeitslots für Vorlesungen existieren im alten Umfang gar nicht mehr. Als lediglich empfohlene Unterrichtsveranstaltungen werden Vorlesungen nur spärlich evaluiert. Die praktische Erfahrung zeigt, dass herkömmliche Vorlesungen oft unbeliebt sind und bereits vor der Pandemie nur sporadisch besucht wurden.

Ein Zurückdrehen der Zeit auf „vor der Pandemie“ ist also allein aus organisatorischen Gründen an vielen Standorten kaum möglich. Die hart erarbeiteten neuen Lehrformate, die unter hohem Ressourceneinsatz sowie starkem persönlichem Einsatz entstanden sind und vielerorts ausgezeichnet evaluiert wurden, nun komplett zu verwerfen, erscheint dazu nicht nur wenig nachhaltig, sondern geradezu verschwenderisch.

How we did it – How we do it

Die Chirurgie wird im Studium der Humanmedizin an der Universitätsmedizin Mainz im achten und neunten Fachsemester abgebildet und gemeinsam durch die Kliniken und Polikliniken für Neurochirurgie, Kinderchirurgie, Herz- und Gefäßchirurgie, Thoraxchirurgie, Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie sowie das Zentrum für Orthopädie und Unfallchirurgie gelehrt. Im achten Semester wird das Praktikum der Chirurgie als Blockwoche abgehalten, hier werden neben praktischen Fertigkeiten wie z. B. Nähen, Untersuchungstechniken, chirurgischer Händedesinfektion auch die Arzt-Arzt-Übergabe (als Teil des longitudinalen Curriculums Kommunikation) in Kleingruppen gelehrt und am Ende des Semesters als praktische OSCE (Objective Structured Clinical Examination) abgeprüft. Dieses Konzept wurde während der COVID-19-Pandemie implementiert [3] und konnte seitdem nicht nur fortgesetzt, sondern ausgebaut werden. So werden mittlerweile zehn statt fünf Stationen gelehrt und sieben statt fünf Stationen geprüft, was das Spektrum deutlich erweitert. Das Praktikum wird durch ein ausführliches Online-Angebot aus asynchron abrufbaren Videos (z. B. zur chirurgischen Naht), Vorlesungen und Textmaterial ergänzt.

Das Blockpraktikum der Chirurgie findet im neunten Fachsemester statt. Es wurde während der COVID-19-Pandemie aufgrund der eingeschränkten Interaktionsmöglichkeiten unter strengen Testregimes als Kleinstgruppen-Unterricht am Krankenbett im Sinne einer halbtägigen Famulatur in den einzelnen Kliniken strukturiert und mit synchronen online Seminaren zur Vermittlung theoretischer Inhalte kombiniert. Dieses Konzept wurde nach der Pandemie grundlegend beibehalten, allerdings finden die Seminare mittlerweile auch wieder in Präsenz statt. Online abrufbare Lehrinhalte ermöglichen die Nutzung der Methoden des „Reversed Classrooms“ und des „Blended Lerarnings“. Die Studierenden bereiten Fälle für die Seminare vor oder komplettieren Rechercheaufträge und präsentieren einander die Ergebnisse im Seminar. Da der Unterricht am Krankenbett aufgrund des sich stetig ändernden Patientenguts und kurzfristiger Änderungen des OP-Plans eingeschränkt planbar bleibt, sind die Seminare notwendig, um die theoretischen Lernziele vermitteln zu können. Des Weiteren werden online asynchron abrufbare Videovorlesungen zu wichtigen viszeralchirurgischen Themen zur Verfügung gestellt, die nach Möglichkeit im Unterricht am Krankenbett abgedeckt werden sollen und jederzeit wiederholt werden können. Inhaltlich handelt es sich hierbei um perioperative Risikoeinschätzung, die Patientencheckliste, Drainagen in der Viszeralchirurgie und Stomata. Alle Studierenden erhalten im Rahmen des Blockpraktikums zudem eine verpflichtende Trainingseinheit an Laparoskopie-Simulatoren (VR-Simulatoren und Lübecker Toolbox), Robotik-Simulatoren und Knotentrainern sowie nach Möglichkeit auch Osteosynthesetrainern, um den praktischen Aspekt der Chirurgie besser abzudecken.

Komplettiert wird die Lehre im achten und neunten Fachsemester durch die Vorlesung Chirurgie, die zwei Semester umfasst. Im Rahmen der COVID-19-Pandemie wurde die Vorlesung auf asynchron online abrufbare Videos umgestellt. Nach Beendigung der Hygienemaßnahmen wird nun im achten Semester einmal wöchentlich eine Präsenzvorlesung angeboten, die durch Online-Vorlesungen ergänzt werden. Das Konzept beinhaltet vorbereitende Vorlesungen (u. A. Wiederholung der Anatomie unter chirurgischen Aspekten, Fragen des Komplikationsmanagements und der Lebensqualität), während die Vorlesungen in Präsenz die wichtigsten Krankheitsbilder der Viszeralchirurgie behandeln und auf die online abrufbaren Inhalte aufbauen sollen.

Aufbauend auf den Bemühungen in der Lehre und dem wissenschaftlichen Schwerpunkt der Autoren im Bereich der virtuellen und augmentierten Realität wurden auch diese Aspekte als Pilotprojekte in die Lehre integriert: Noch vor Beginn der Pandemie wurde gemeinsam mit der Rudolf-Frey-Lernklinik der Universitätsmedizin Mainz mit Schauspielpatienten eine Station zur Arzt-Arzt- Übergabe implementiert. Da die Übergabe für die Studierenden in der Praxis erschwert zu trainieren ist, wurde im Rahmen eines BMBF-geförderten Verbundprojekts (FKZ 16SV8057 „AVATAR“) eine Applikation zum Training der Übergabe in virtueller Realität konzipiert. Der Einsatz von Schauspielpatienten ist bekanntlich sehr aufwändig und teuer und insbesondere durch die Hygienebestimmungen während der COVID-19-Pandemie wurde der Einsatz von alternativen Konzepten notwendig. Die Virtuelle Realität eignet sich als Alternative zur direkten persönlichen Interaktion besonders gut.

Des Weiteren wurde gemeinsam mit der Virtual and Augmented Reality Group der Fakultät für Informatik der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg eine Applikation in augmentierter Realität zum Erlernen der Untersuchung des Abdomens entwickelt. Die Idee für diese Anwendung wurde durch die eingeschränkten Interaktionsmöglichkeiten mit Patienten befeuert. Beide der genannten Anwendungen befinden sich aktuell im Test mit freiwilligen Studierenden und werden anhand von Evaluationen kontinuierlich verbessert und weiterentwickelt, um den Einsatz auf das gesamte Semester auszuweiten. Der Einsatz von virtueller und augmentierter Realität sowie seine Entwicklung gehen mit einem hohen Aufwand und beträchtlichen Investitionskosten für das entsprechende Equipment einher. Die Unterstützung dieser Bemühungen durch das Gutenberg Lehrkolleg der Universität Mainz sowohl im Rahmen eines „Innovativen Lehrprojekts“ mit dem Titel „Augmented Reality (AR) unterstützte Untersuchung des Abdomens in der Viszeralchirurgie“ als auch eines „Schwerpunktprojekts“ mit dem Titel „Lehren aus der Pandemie – nachhaltige, innovative Lehrkonzepte in Präsenz, online und in virtueller Realität in der Chirurgie“ zeigen den Stellenwert der innovativen Technologien in der medizinischen Lehre auf.

Die Sicht der Lehrenden

Bereits in den Jahren 2020 und 2021 haben die Autoren die Lehrbeauftragten der chirurgischen Kliniken der Universitätsklinika in Deutschland zur Lehre während der COVID-19-Pandemie befragt [2]. Im Jahr 2023 nahmen acht der 37 Lehrbeauftragten (21,6 %) der chirurgischen Kliniken an einer erneuten kurzen Online-Umfrage teil. Während die Lehrbeauftragten während der Pandemie einheitlich den Wunsch geäußert hatten, die neu erstellten Lehrkonzepte in Zukunft zumindest in Teilen beizubehalten, gaben aktuell nur 50 % an, dies auch getan zu haben. Auf die Frage, ob positive Veränderungen in der Lehre durch die Änderungen während der COVID-19-Pandemie aufgefallen sind, fielen die Meinungen geteilt aus (12,5 % sehr positiv, 12,5 % positiv, 25 % weder positiv noch negativ, 50 % keine Antwort). Jedoch waren sich die Teilnehmenden einig, dass sie seit der Lockerung der Hygienemaßnahmen deutlich mehr Freude an der Lehre haben.

Diskussion

Das gesamte Konzept „die Lehre der Chirurgie“ sollte darauf beruhen, die wertvolle gemeinsame Zeit während der Lehre in Präsenz optimal zu nutzen. Darum bedarf es einer optimierten Vorbereitung von Studierenden und Dozierenden. Hierfür sind klare und konkrete Lernziele und detailliert ausgearbeitete Lehrmaterialien notwendig, was einen nicht zu unterschätzenden Aufwand für die Lehrenden bedeutet. Vermieden werden sollte die Kombination aus Studierenden, die nicht wissen, in welcher Veranstaltung sie sitzen, Dozierenden, die ihnen unbekannte Power-Point-Folien vorlesen, und dem Lernziel „alles aus dem Buch XY kann in der Klausur gefragt werden“. Erfahrungsgemäß stecken motivierte Lehrende auch die Studierenden mit ihrer Begeisterung an. Natürlich sollen Unterrichtsveranstaltungen auf das bevorstehende Staatsexamen vorbereiten, gleichermaßen stellen sie jedoch auch eine Möglichkeit dar, für das eigene Fach zu werben, und können so ein Aushängeschild für die Abteilung sein. Dies schließt ein, dass die gesamte Abteilung in die Lehre involviert wird und vom erfahrenen Oberarzt/der erfahrenen Oberärztin bis zum jungen Assistenzarzt/der jungen Assistenzärztin alle ihren Eifer einbringen und transportieren können. Auch wenn Lehre im klinischen Alltag zuweilen organisatorische Herausforderungen stellt, sollte die Wichtigkeit jeder einzelnen Veranstaltung als Visitenkarte sowohl für die Chirurgie im Allgemeinen als auch für die Abteilung als möglicher Arbeitgeber nicht unterschätzt werden.

Die Erfahrung des aktuellen Sommersemesters 2023 zeigt jedoch auch, dass das Angebot der Vorlesung in Präsenz auch nach Ende der Pandemie kaum genutzt wird, insbesondere im Vergleich zur online abrufbaren Vorlesung. Als Erklärung wird von den Studierenden hier häufig Zeitdruck wegen des hohen Lernaufwands vieler hoch spezialisierter Fächer in Kombination mit der Vereinbarkeit mit Promotionsarbeiten, Familie und Nebenjobs genannt. Gemäß der Recherche ergibt sich zwischen 1995 und 2021 lediglich ein Anstieg des Prozentsatzes von Studierenden mit Kind von 7 % auf 8 %, jedoch ist die Zahl der Studierenden in dieser Zeit von 1.872.490 auf 2.941.915 um über eine Million angestiegen [12–14]. Im Vergleich ergibt sich hieraus zwar nur ein Zuwachs von 1 %, dies entspricht jedoch mehr als 100.000 Studierenden mit Kind in Deutschland mehr als im Jahr 1995. Während die Zahlen also steigen, hat sich an der Struktur des Studiums und der Vereinbarkeit von Studium und Familie in vielen Fächern wenig geändert.

Die aktuelle Sozialerhebung des Deutschen Studierendenwerks ergibt dazu, dass etwa ein Drittel aller Studierenden Schwierigkeiten hat, ihr Studium und ihr tägliches Leben zu finanzieren und 63 % neben dem Studium erwerbstätig sind [12]. Im persönlichen Gespräch geben Studierende an, online abrufbare Vorlesungen häufig abends z. B. während der Hausarbeit oder des Abendessens anzusehen, analog zu dem, wie ihre Peers Netflix und andere Streaming-Anbieter konsumieren. Die persönliche Erfahrung zeigt auch, dass insbesondere Studierende, die zur Sicherung des Lebensunterhalts im medizinischen Sektor im Nachtdienst arbeiten (z. B. Rettungsdienst oder Pflege), die Vorlesungen nachts während der ruhigen Phasen der Schicht ansehen.

Die Begeisterung für ein Fach ausschließlich online im Videoformat zu vermitteln, ist sicherlich schwieriger als in der persönlichen Interaktion, sodass auch unter diesem Gesichtspunkt die gemeinsame Zeit in Anwesenheit optimal genutzt werden sollte. Letztlich lassen sich die wenig besuchten Vorlesungen aber nicht nur auf diese Tatsachen zurückführen. Eventuell ist auch das Format der Vorlesung im Hörsaal nicht mehr zeitgemäß für die Digital Natives der aktuellen Generation von Medizinstudierenden. Es muss überdacht werden, wie wir Wissen vermitteln. Dies kann nicht als Top-Down der Ordinarien und Unterrichtsbeauftragten funktionieren, die Einbindung der Studierenden und die Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen sind bei der Umsetzung der neuen Approbationsordnung an den Medizinischen Fakultäten unerlässlich [15]. Unser Ziel als Chirurginnen und Chirurgen muss sein, dem Nachwuchs unser großartiges Fach so nahezubringen, dass dieser auf die Prüfungen vorbereitet ist, aber auch eine fundierte Entscheidung über die Chirurgie als Beruf treffen kann. Leider gelingt dies durch personelle Engpässe und zu wenig Zeit für Lehre zu selten. Nachwuchsprogramme wie z. B. „Nur Mut! Kein Durchschnittsjob: ChirurgIn“ des BDC oder das Zertifikat studentische OP-Assistenz der DGAV sind Beispiele dafür, wie die Faszination Chirurgie neben der chirurgischen Lehre an den Universitäten plastisch vermittelt werden kann.

Welche Änderungen wir aus der Pandemie beibehalten sollten – und welche nicht

Die ausschweifenden Umstrukturierungen im Rahmen der COVID-19-Pandemie haben der chirurgischen Lehre zu einem Update in Richtung der Digitalisierung verholfen, das längst überfällig war. Diese Chance sollte genutzt und das erworbene Wissen zu neuen Lehrmethoden weiter ausgebaut werden. Die Chirurgie als praktisches Fach benötigt einen hohen Anteil an Anwesenheitslehre, um manuelle und klinische Fertigkeiten wie die Durchführung von Untersuchungen, das Anlegen von Verbänden, Nahttechniken, aber auch Kommunikationsfähigkeiten weiterhin vermitteln zu können – reine Online-Lehre ist hier undenkbar. Chirurgische Lehre verdient Zeit und Einsatz, um die nächste Generation an Chirurg:innen zu motivieren und auszubilden.

Literatur

[1]   Amboss. Zweites Staatsexamen. 2021 30.03.2021 [cited 2023 14.08.2023]; Available from: https://www.amboss.com/de/wissen/zweites-staatsexamen/.
[2]   Hanke, L.I., et al., [Surgical Education of Medical Students in Times of COVID-19 – Necessary Adjustments are Chances for the Future]. Zentralbl Chir, 2021. 146(6): p. 586-596.
[3]   Kurz, S., et al., [Prüfung praktisch-chirurgischer Lehre auf Distanz – Erfahrungen mit einem Hybrid-OSCE in der Chirurgie]. submitted article, 2022.
[4]   Boyle, J.G., et al., Viva la VOSCE? BMC Med Educ, 2020. 20(1): p. 514.
[5]   Baqir, S.M. and F. Mustansir, Online Medical Education and Examinations during COVID-19: Perspectives of a Teaching Associate. J Coll Physicians Surg Pak, 2021. 31(1): p. S16-s18.
[6]   Chung, M.S., COVID-19 Changes Medical Learning. J Korean Med Sci, 2021. 36(1): p. e9.
[7]   Kronenfeld, J.P., et al., Medical Student Education During COVID-19: Electronic Education Does Not Decrease Examination Scores. Am Surg, 2021. 87(12): p. 1946-1952.
[8]   Kronenfeld, D.S. and J.P. Kronenfeld, Medical Student Surgical Education Was Feasible During the COVID-19 Pandemic. Am Surg, 2022. 88(8): p. 2074.
[9]   Hernandez, S., et al., Third year medical student knowledge gaps after a virtual surgical rotation. Am J Surg, 2022. 224(1 Pt B): p. 366-370.
[10] WHO erklärt Corona-Notstand für beendet. 2023 [cited 2023 31.07.2023]; Available from: https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-who-gesundheit-notstand-aufgehoben-100.html.
[11] Chinelatto, L.A., et al., What You Gain and What You Lose in COVID-19: Perception of Medical Students on their Education. Clinics (Sao Paulo), 2020. 75: p. e2133.
[12] Studierendenwerk, D. Die Studierendenbefragung in Deutschland: 22. Sozialerhebung. 2023 [cited 2023 31.07.2023]; Available from: https://www.studierendenwerke.de/fileadmin/user_upload/SE22_Hauptbericht_barrierefrei.pdf.
[13] Deutschland, S.d.S.K.d.K.d.L.i.d.B. Bericht übr die Situation Studierender mit Kind. 1995 [cited 2023 31.07.2023]; Available from: https://www.kmk.org/fileadmin/
veroeffentlichungen_beschluesse/
1995/1995_09_08_Studierende-mit-Kind.pdf
.
[14] Statis, D. Hochschulen – Studierende insgesamt und Studierende Deutsche nach Geschlecht. [cited 2023 31.07.2023]; Available from: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bildung-Forschung-Kultur/Hochschulen/Tabellen/lrbil01.html#242472.
[15] Gesundheit, B.f. Referentenentwurf des Bundesministeriums für Gesundheit, Verordnung zur Neuregelung der ärztlichen Ausbildung. 2021 [cited 2022 19.01.2022]; Available from: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/Gesetze_und_Verordnungen/GuV/A/Referentenentwurf_AEApprO.pdf.

Korrespondierende Autorin:

Dr. med. Laura Isabel Hanke

Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie

Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Langenbeckstraße 1

55131 Mainz

[email protected]

Prof. Dr. med. Hauke Lang

Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie

Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

PD Dr. med. Tobias Huber

Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie

Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Gesundheitspolitik

Hanke LI, Lang H, Huber T: BDC-Praxistest: Chirurgische Lehre – Alles auf Anfang? Passion Chirurgie. 2023 November; 13(11): Artikel 05_01.

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