Alle Artikel von Oberstarzt Prof. Dr. med. Benedikt Friemert

Chirurgische Herausforderungen bei der Landes- und Bündnisverteidigung

Das Heer der Bundeswehr erprobt im April 2024 bei der NATONorth Atlantic Treaty Organization-Übung „Saber Strike“ in Polen sein Konzept der Mittleren Kräfte. Das Jägerbataillon 1 übt mit seinen Radpanzern an der Seite der Alliierten. Hier: Marsch in der Kolonne: Rings um den Truppenübungsplatz Bemowo Piskie liegen malerische Dörfer. Für die Menschen der Umgebung ist es völlig normal, Militärfahrzeuge auf den Straßen zu sehen.

Wie ist die aktuelle sicherheitspolitische
Lage?

Chirurgie bei der Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV) – wer hätte gedacht, dass wir uns als Chirurgen nun so intensiv mit diesem Thema auseinandersetzen müssen? Aber nachdem die Krim 2014 von Russland annektiert wurde, 2015 dann die Besetzung einiger Ostgebiete der Ukraine von Russland erfolgte und im April 2022 die Ukraine von Russland in einem klassischen konventionellen Krieg überfallen wurde, musste uns allen spätestens zu diesem Zeitpunkt klar werden, dass sich die Europäische Sicherheitslage und auch die Sicherheitsordnung dramatisch verändert hatten. Putin hat gezeigt, was seine Ziele sind, und was er bereit ist, dafür zu tun. Inzwischen ist die gesamte Wirtschaft Russlands auf eine Kriegswirtschaft umgestellt worden [1]. Er ist aktuell in der Lage, z. B. ca. 100 Panzer im Monat zu bauen!

Damit ist natürlich auch die Bedrohung Europas, insbesondere Deutschlands erheblich gestiegen. Die Nato geht davon aus, dass Putin spätestens Ende des Jahrzehnts in der Lage sein wird, die NATO anzugreifen. Hier stehen bekanntermaßen die baltischen Staaten in seinem Fokus [2].

Was bedeutet das nun für die Chirurgie in Deutschland?

Zunächst ist die Frage zu beantworten, was die Landes- und Bündnisverteidigung eigentlich ist. Hierzu ist festzustellen, dass die Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV) der Hauptauftrag der Bundeswehr ist [3]. Sie umfasst die Verteidigung der Souveränität, der territorialen Integrität und Bevölkerung Deutschlands. Gleichzeitig muss die Bundeswehr in der Lage sein, unsere Bündnispartner zu verteidigen. Wie allgemein bekannt, ist Deutschland seit 1955 Mitglied der NATO, die am 4. April 1949 gegründet wurde [4]. Die letzten Mitglieder, die der NATO beigetreten sind, waren Schweden und Finnland. Damit hat Putin genau das Gegenteil von dem erreicht, was er eigentlich wollte. (Abb. 1)

Abb. 1: Abgebildet ist das aktuelle Vertragsgebiet der NATO, nachdem nun auch Schweden und Finnland beigetreten sind. Quelle: https://osteuropa.lpb-bw.de/nato-gipfeltreffen, 12.08.2024, 13:47

Zu Zeiten des Kalten Kriegs, also bis zum Ende der 90er-Jahre, war Deutschland in dem Szenario von LV/BV sog. Frontnation, was bedeutet hat, dass der militärische Frontverlauf auf deutschem Territorium verlief. Durch die NATO-Osterweiterung nach der Wiedervereinigung 1991 hat sich die geostrategische Lage Deutschlands in der Form verändert, dass wir Aufmarschland geworden sind. Deswegen sprechen wir nun auch von der Drehscheibe Deutschland im Rahmen von LV/BV.

Was bedeutet das für die chirurgische Versorgung?

Das bedeutet zunächst, dass alle Nationen, die in das wahrscheinlichste Kriegsgebiet, nämlich das Baltikum, verlegen wollen, durch Deutschland marschieren müssen. Wir sind zu einem Aufmarschland geworden, was auch damit zusammenhängt, dass die Schweiz und Österreich neutrale Staaten sind und es damit fraglich ist, ob NATO-Truppen in einer solchen Situation durch diese beiden Staaten Richtung Osten marschieren können. Im Rahmen der NATO-Verträge ist geregelt, dass neben vielen anderen Aufgaben die medizinische Versorgung der alliierten Truppen immer durch das Land bereitgestellt wird, in dem sich die Truppen gerade befinden. Das bedeutet, dass wir für ca. 800.000 Soldaten die medizinische und damit auch chirurgische Versorgung übernehmen müssen. Wie wir das im Ukrainekrieg jeden Tag sehen können, ist man in einem Aufmarschland nicht vor Kriegshandlungen geschützt, sondern es werden Sabotageakte und Angriffe genau da erfolgen, wo sich die gegnerischen Truppen formieren. Damit werden auch verwundete Patienten, Soldaten wie auch Zivilisten, hier in Deutschland entstehen, die behandelt werden müssen. Gleichzeitig müssen die verwundeten deutschen Soldaten bei uns in Deutschland versorgt werden. Entsprechend der Berechnung der NATO ist für die Bundeswehr damit zu rechnen, dass ca. 500 bis 1.000 Soldaten täglich nach Deutschland zurückkommen, um in unseren Krankenhäusern versorgt zu werden. Dass diese Versorgung zu einem ganz wesentlichen Teil nicht in den Bundewehrkrankenhäusern stattfinden wird, sondern in den zivilen Kliniken, erkennt man daran, dass die Bundeswehrkrankenhäuser insgesamt nur 1.850 Betten betreiben und natürlich ein Großteil der Chirurgen beim LV/BV Szenario nicht in den Bundeswehrkrankenhäusern sein werden, sondern an der Front. Damit kommt auf das zivile Gesundheitssystem eine erhebliche Belastung zu, denn zusätzlich ist mit erheblichen Flüchtlingsströmen zu rechnen und unsere eigene Bevölkerung muss ja auch noch versorgt werden. (Abb. 2)

Abb. 2: Mögliche Patientenströme im Rahmen der Landes- und Bündnisverteidigung. Quelle: eigene Grafik

Um diese Aufgabe nun bewältigen zu können, muss man zunächst feststellen und realisieren, dass diese Herausforderung nur im Sinne einer gesamtstaatlichen Aufgabe zu bewältigen ist, in der alle eine definierte Rolle spielen müssen.

Zunächst müssen die Patienten, die aus dem Kampfgebiet nach Deutschland zurückkommen – per Flugzeug, per Bahn und per Landtransport – auf die Krankhäuser flächendeckend verteilt werden. Wie dieser Prozess organisiert und umgesetzt werden soll, ist gerade in der Diskussion und Planung. Hier sind die Bundeswehr, der Bund, die Länder, das Rote Kreuz, das BBK und weitere Player in Pflicht, diese Aufgabe zu lösen. Ob die Verteilung, wie bei den ukrainischen Patienten, im Pull-Prinzip erfolgen kann, oder ob auf ein Push-Prinzip umgestellt werden muss, was z. B. in die Bettenhoheit der Länder eingreifen würde, ist bisher nicht geklärt. Schlussendlich werden die verwundeten Patienten meist in den Kliniken der Traumanetzwerke DGU® behandelt werden, da es sich naturgemäß in den meisten Fällen um Traumapatienten handelt. Es wäre widersinnig, wenn man eine seit mehr als 20 Jahren etablierte und gut funktionierende Netzwerkstruktur der Traumaversorgung nicht nutzen würde.

In fachlich-chirurgischer Hinsicht müssen wir uns darauf einstellen, dass in den Kliniken ein erheblicher Anteil an Schuss- und Explosionsverletzungen zu behandeln sein wird. Im Vergleich zu den Verletzungen, die durch Terrorattentate [5, 6]   entstehen, zeigen diese klassischen Kriegsverletzungen, gerade bei den Explosionsverletzungen, eine deutlich größere Gewebezerstörung. Dieses liegt daran, dass die industriell hergestellten Explosivwaffen wie Minen, Bomben und Granaten eine erheblich größere Energie freisetzen als die zum Teil selber hergestellten Sprengsätze der Terroristen (Abb. 3) [1].

Abb. 3: Abgebildet ist ein improvisierter Sprengsatz unter Nutzung eines Auslösers über ein Handy.

Bei den Schussverletzungen ist der Unterschied nicht gegeben, denn die russische Armee wie auch die Terroristen verwenden das bekannte Sturmgewehr der Firma Kalaschnikow. Messerstichverletzungen, die wir in unseren Kliniken leider immer häufiger sehen, spielen in einem LV/BV Szenario keine Rolle.

Seit den Terrorattentaten 2015 in Paris und 2016 in Brüssel hat sich Deutschland vermehrt mit den dazugehörigen Verletzungsfolgen auseinandergesetzt. Durch die Aufnahme und Behandlung von ukrainischen Kriegsverletzten seit dem Jahr 2022 haben inzwischen viele Kliniken Erfahrungen mit dieser Patientenklientel gesammelt. Bei diesen Verletzten handelt es sich ohne Ausnahme um Patienten, die vor mehreren Wochen oder Monaten verletzt wurden. Das bedeutet, dass die akute und subakute Traumaphase schon abgeschlossen waren und wir es nur noch mit den Folgeschäden zu tun haben. Das sind im Wesentlichen Defektwunden, bei denen meist noch eine Knocheninfektion vorliegt. Somit mussten aufwendige septische und rekonstruktive Therapien durchgeführt werden.

Eine wesentliche Verletzung im Krieg ist die Amputation. Diese entsteht meist durch zwei Mechanismen: zum einen durch die Verletzung an sich. Die Extremität wird durch die Explosion primär abgetrennt. Zum anderen ist es das Tourniquet, das eine hohe Amputationsrate aufweist. Dieses liegt nicht daran, dass die Anwendung fehlerhaft ist. Es ist schlicht die Tatsache, dass die Soldaten nicht schnell genug in einer chirurgischen Einrichtung ankommen, in der die Blutungskontrolle unter Erhalt der Perfusion erfolgen kann. Die Rettungszeiten sind einfach zu lang. Daher verbleiben die Tourniquets deutlich länger und es kommt nachfolgend zu den Amputationen. Sie sind eine mittelbare Kriegsfolge. Letzte Zahlen aus der Ukraine deuten darauf hin, dass aktuell in der Ukraine ca. 100.000 Amputierte behandelt werden müssen. Dabei ist auch eine nicht unerhebliche Zahl an mehrfachamputierten Patienten. Diese Patienten benötigen, um sie rehabilitieren zu können, zunächst einen sehr guten Stumpf, um eine Prothese anpassen zu können. Zum zweiten benötigen sie eine Prothese, die erhebliche Kosten verursacht, danach noch eine Rehabilitation. Alle die o. g. Folgen, und hier sind nur einige beispielhaft aufgezeigt, werden Deutschland und damit uns Chirurgen erheblich fordern. Auch das Kliniksystem wird erheblich belastet sein, wie auch das Rehabilitationssystem. Es ist absehbar, dass es zu Priorisierungen bei der Behandlung kommen wird.

Im Rahmen der Landes- und Bündnisverteidigung stellt sich diese Situation aber noch herausfordernder dar, denn die Patienten werden uns in den Kliniken in der akuten oder subakuten Traumaphase erreichen. Diejenigen, die in Deutschland durch Sabotage (Terror Like Attacs, (TLA)) oder einen direkten Angriff verwundet werden, belasten das Gesundheitssystem wie bei einem Terrorattentat [8]. Dieses bedeutet, dass dort, wo ein Angriff erfolgt – man kann es jeden Tag in der Ukraine verfolgen –, lokal das nächste verfügbare Krankenhaus mit den Patienten überlastet werden wird. Bei den Patienten, die von der Front nach Deutschland kommen, sind die Akutphase wie das Schockraummanagement und die ersten lebensrettenden Operationen schon erfolgt. Diese Patienten erreichen uns dann nach ca. 2-3 Tagen, somit in der subakuten Phase. Die NATO geht davon aus, dass ca. 50 % dieser Verwundeten intubiert und beatmet bei uns in den Kliniken eintreffen werden. Somit müssen wir ergänzend zu den Rekonstruktionen auch noch einen erheblichen Teil der Intensivtherapie und der Notfallbehandlung durchführen, bis mit den rekonstruktiven Maßnahmen begonnen werden kann. Dieser letzte Teil unterscheidet sich nicht von der aktuellen Behandlung der ukrainischen Patienten bei uns.

Zusammenfassend muss man feststellen, dass auf die Chirurgie in Deutschland eine erhebliche Belastung und Verantwortung im Falle eines LV/BV zukommt. Dieses liegt an den Verwundetenzahlen inkl. der zusätzlich noch zu behandelnden Patienten, es liegt an den Verletzungsmustern, die uns in der Akut- und Postakutphase fordern, und dann an der gesamten rekonstruktiven Chirurgie zur Wiederherstellung einer bestmöglichen Funktion incl. der Rehabilitation [9]. Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass es nach einem Krieg eine weitere unausweichliche Phase gibt, nämlich den Wiederaufbau. Hier wird jeder gefordert sein. Das bedeutet, je besser wir die Verwundeten versorgen, je besser es uns gelingt, die körperliche Integrität und Funktionalität wiederherzustellen, desto leichter wird uns gemeinsam der Wiederaufbau gelingen.

Was müssen wir Chirurgen nun tun?

Diese Frage ist recht einfach zu beantworten: Wir müssen uns auf diese Situation vorbereiten. Das bedeutet zum einen, dass wir uns mehr als bisher mit den besonderen Verletzungsmustern der Schuss- und Explosionsverletzungen auseinandersetzen müssen. Je besser wir das machen, und hier ist die Herausforderung, diese Fähigkeiten in der Fläche zu entwickeln, desto weniger schwierige Verläufe werden auftreten, desto besser sind die Ergebnisse und desto weniger wird das Gesundheitssystem belastet. Auf der anderen Seite müssen wir uns mit dem Management der Patienten bei einem Massenanafall von Verletzten bei Sabotage (Terror Like Attacs, (TLA), ist wie ein Terroranschlag), also einem TerrorMANV beschäftigen. Dazu gehört es, eine große Anzahl von Patienten, die ein Krankenhaus überrennen, organisieren zu können. Dazu gehört es auch, sich mit häufigen Zusatzverletzungen auszukennen, wie z. B. der Verbrennung, die gerade bei Explosionsverletzungen häufig auftreten. Dazu gehört es, sich mit der Schuss- und Explosionsballistik auseinanderzusetzen. Es gehört aber auch dazu, dass wir versuchen die Chirurgen flächendeckend zu befähigen, nicht nur als Spezialist tätig zu werden, sondern einen gewissen Mut haben, auch außerhalb der eigenen Komfortzone Verantwortung zu übernehmen. Das bedeutet z. B., als Gynäkologe vielleicht eine Bauchblutung zu stillen oder als Plastischer Chirurg eine Gefäßverletzung zu versorgen. Da es in der heutigen Zeit aufgrund der medizinischen Entwicklung nicht mehr möglich ist, alle Chirurgen primär zum Allgemeinchirurgen weiterzubilden – was für dieses Szenario sicher das Beste wäre – können wir das nur über ein entsprechendes Kurssystem incl. einer Personenzertifizierung umsetzen.

Die chirurgischen Fachgesellschaften haben dazu inzwischen verschiedene Kurse entwickelt, die sich mit diesen Themen beschäftigen. Neu verabschiedet ist eine Personenzertifizierung der DGU® in Zusammenarbeit mit dem Sanitätsdienst der Bundeswehr sowie den BG-Kliniken, der DGOU und der DGCH. Diese Personenzertifizierung bündelt alle notwendigen Kenntnisse und fokussiert auf die Fähigkeit, bei einem TerrorMANV, auch im Rahmen eines LV/BV und einem TLA, zu bestehen und nennt sich NotfallchirurgMANV. Weiterhin stehen Formate wie der „Terror and Disaster“-Kurs (TDSC), der „ATC“-Kurs (Acute Care in Trauma, AUC), ein „BurnsKurs 48“ sowie ein „Gefäßtraumakurs“ u. v. m. zur Verfügung.

Zusammenfassung

Ziel dieses Artikels ist es, uns Chirurgen für das Thema der Landes- und Bündnisverteidigung zu sensibilisieren. Dieses Thema betrifft eben nicht nur die Bundewehrchirurgen, sondern alle Chirurgen in Deutschland. Um sich auf eine solche Situation vorbereiten zu können, ist es zunächst notwendig zu verstehen, was in einem solchen Szenario auf Deutschland und die Medizin in Deutschland zukommt. Wir Chirurginnen und Chirurgen stehen hier ganz wesentlich, wie auch die anästhesiologischen Kolleginnen und Kollegen, im Fokus der Verantwortung und damit auch der Belastung. Und klar ist auch, dass man sich in einer Notsituation besser schlägt, je besser man vorbereitet ist. Dieses impliziert, dass es ein eigenes chirurgisches Interesse sein muss, uns um diese Notwendige Vorbereitung zu bemühen und auch einzufordern. Das sind wir denen schuldig, die in einem solchen Szenario an der Front kämpfen, um unsere demokratisch freiheitliche Grundordnung auch für uns und die gesamte Gesellschaft zu verteidigen.

Literatur

[1]   https://www.bpb.de/themen/wirtschaft/europa-wirtschaft/542999/russland-auf-dem-weg-in-die-kriegswirtschaft/ (12.08.2024, 13:19)
[2]   https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/generalinspekteur-breuer-in-fuenf-jahren-kann-putin-nato-angreifen-19681205.html (12.08.2024, 13:23)
[3]   https://www.gesetze-im-internet.de/gg/BJNR000010949.html (12.08.2024, 13:25)
[4]   https://www.bmvg.de/de/themen/verteidigung/multinationale-zusammenarbeit/nato (12.08.2024, 13:29)
[5]   Achatz G, Bieler D, Franke A, Friemert B; Deployment, Disaster and Tactical Surgery Section. International efforts for improved terror preparedness: a necessity and an obligation. Eur J Trauma Emerg Surg. 2023 Apr;49(2):587-588. doi: 10.1007/s00068-023-02251-7. PMID: 37166503; PMCID: PMC10175376.
[6]   Friemert B, Franke A, Bieler D, Achatz A, Hinck D, Engelhardt M. Versorgungsstrategien beim MANV/TerrorMANV in der Unfall- und Gefäßchirurgie : Darstellung eines Versorgungskonzeptes [Treatment strategies for mass casualty incidents and terrorist attacks in trauma and vascular surgery : Presentation of a treatment concept]. Chirurg. 2017 Oct;88(10):856-862. German. doi: 10.1007/s00104-017-0490-4. PMID: 28801785.
[7]   https://en.wikipedia.org/wiki/Improvised_explosive_device (12.08.2024, 13:42)
[8]   Hoth P, Bieler D, Friemert B, Franke A, Blätzinger M, Achatz G; AG EKTC der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie. Sicherheitsaspekte und Vorbereitung zur Notfallvorsorge und Gefahrenabwehr in Kliniken bei MANV/TerrorMANV : Ausblick auf zukünftige Herausforderungen anhand von Umfrageergebnissen zur 3. Notfallkonferenz der DGU [Safety aspects, emergency preparedness and hazard prevention in hospitals concerning mass casualty incidents (MCI)/terror-related MCI : Prospects on future challenges based on survey results from the 3rd emergency conference of the DGU]. Unfallchirurgie (Heidelb). 2022 Jul;125(7):542-552. German. doi: 10.1007/s00113-021-01046-y. Epub 2021 Aug 2. PMID: 34338840; PMCID: PMC9256572.
[9]   Rehabilitation in a war zone. Bull World Health Organ. 2022 Nov 1;100(11):658-659. doi: 10.2471/BLT.22.021122. PMID: 36324550; PMCID: PMC9589391.

Friemert B: Chirurgische Herausforderungen bei der Landes- und Bündnisverteidigung, Passion Chirurgie. 2024 September; 14(09/III): Artikel 03_02.

Katastrophenchirurgie: Wir brauchen den zeitgemäßen Komplex-Chirurgen

Die Menge des Wissens um die Einsatz- und Katastrophenchirurgie steht hierzulande im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Bedeutung im Fall eines Schadensereignisses. Grund hierfür ist die Tatsache, dass die Chirurgie im Einsatz nur von wenigen Spezialisten wie z. B. Angehörigen des Sanitätsdienstes oder Hilfsorganisationen ausgeübt wird, gleichzeitig Katastrophen vom Ausmaßen eines Tsunami oder eines Erdbebens extrem selten vorkommen. Zusätzlich ist Deutschland – bisher – von terroristischen Anschlägen verschont geblieben. Hier in Deutschland ist daher in Friedenszeiten eher eine individuelle und spezialisierte Medizin gefragt. Umso mehr drängt sich daher die Frage auf, wie denn eine adäquate Vorbereitung oder gar eine Ausbildung für die Einsatz- und Katastrophenchirurgie bewerkstelligt werden kann.

Besonderheiten der Einsatz- und Katastrophenchirurgie

Gemeinsame Kennzeichen der Einsatz- und Katastrophenchirurgie sind die restriktiven und reduzierten Bedingungen, unter denen chirurgische Leistungen zu erbringen sind. Während ein Einsatz in Krisenregionen oder anderen widrigen Bedingungen unter Umständen noch individualisierte Behandlungen von Patienten zulassen, beherrscht in der Katastrophe der Massenanfall an Verletzten bzw. an Kranken das Szenario. Hier besteht immer eine erhebliche Diskrepanz zwischen der Menge an Patienten und den dafür benötigten Behandlungsmöglichkeiten, personell wie materiell. Der logistische, materielle und personelle Vorhalt für diese Situation übersteigt also bei weitem den eigentlichen Bedarf. Handelt es sich um eine reine Anpassung der Chirurgie an restriktive Bedingungen, wie zum Beispiel eingeschränkte hygienische Voraussetzungen, kommen vereinfachte oder abgekürzte Verfahren zum Einsatz, die nach Verlegung bzw. Transfer in normale Verhältnisse zum für den Patienten positiven Endergebnis komplettiert werden können. Im Falle des definitiven Missverhältnisses von Versorgungsangebot und Nachfrage kommen bei der Indikationsstellung zur Behandlung auch organisatorische Limitationen zum Tragen. Unter Umständen wirken darüber hinaus auch Zeitdruck, eine widrige taktische Lage oder schlichtweg logistische Probleme zum erheblichen Teil auf zu treffende Entscheidungen ein und führen zum Problem der Priorisierung von Behandlungen.

Grundsätzlich ist im Rahmen der Einsatz- und Katastrophenchirurgie mit gänzlich unterschiedlichen Verletzungsmustern im Vergleich zur Chirurgie in Friedenszeiten oder im geregelten Heimatland zu rechnen. Dabei ist natürlich ein gewisser Prozentsatz an sogenannten „normalen Notfällen“ auch immer mit zu behandeln. Naturkatastrophen, terroristische Anschläge und kriegerische Auseinandersetzungen beinhalten abhängig vom Szenario immer Auswirkungen äußerer Gewalt auf den menschlichen Körper. Dazu gibt es in der Literatur über die Jahre vielfältige Analysen der Verletzungsmuster bei Erdbeben und bei Terroranschlägen. Es konnte in den einschlägigen Publikationen gezeigt werden, dass es bei terroristischen Anschlägen zu einem Drittel der Fälle polytraumatisierte Patienten gibt. Hier handelt es sich generell um Verletzungen, die in ihrer Komplexität normalerweise in der zivilen Notfallmedizin nicht in der Form gesehen werden. Insbesondere bei Bombenanschlägen spricht im Sinne multipler „Blast Injuries“ von einem multidimensionalen Polytrauma.

In der Zusammenschau wird deutlich, dass im Falle einer katastrophenmedizinischen Situation zwei Problemkreise führend für die Entscheidungsfindung für die Behandlung sind. Zum einen ist immer mit einer Vielzahl von Verletzten zu rechnen, die das medizinische System in der Regel – meist zeitlich begrenzt – quantitativ völlig überfordert. Hier geht es aus chirurgischer Sicht nicht mehr um individualmedizinische Maßnahmen, sondern um definitive Kriterien der Machbarkeit einer Versorgung und um Festlegen einer Prioritätenliste. In diesem Zusammenhang hat der Begriff der Triage im neumodernen Sinne wieder seine definitive Berechtigung, nachdem in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts im damaligen Sinne der sog. Kriegschirurgie fälschlicherweise in Verruf gekommen war. Im Sinne einer zeitgemäßen Notfallmedizin bzw. -chirurgie verdient die Triage gerade bezüglich des Ressourcenmanagements generell ihre Berechtigung. Hier ist festzustellen, dass die Triage für das verantwortliche Team eine hohe Belastung darstellt, auf die man sich im Rahmen von Übungen und Ausbildungen vorbereiten muss. Sanitätsoffiziere der Bundeswehr und andere Teilnehmer an Hilfseinsätzen haben sicherlich im Rahmen von Auslandseinsätzen wesentliche Erfahrung hierzu gewinnen können, die in diese Diskussion eingebracht werden können. Der zweite Problemkreis ist die Frage, wer diese Patienten, die großteilig polytraumatisiert sind und ausgedehnte Kombinationsverletzungen aufweisen, behandeln bzw. operieren soll. Da es sich im Katastrophenfall nicht mehr um eine individualmedizinische Therapie mit Beistellung sämtlicher Fachkapazitäten handelt, ist absehbar, dass der einzelne Chirurg sehr viel mehr können muss, als nur das, was in seinem angestammten Fachgebiet gefordert wird. Wie wird also der nach neuer Weiterbildungsordnung ausgebildete Facharzt-Chirurg in Zukunft in der Lage sein mit diesen „multidimensional“ verletzten Patienten alleine und gerade unter restriktiven Bedingungen fertig zu werden können?

Anforderungen an die Aus- und Weiterbildung

Um diese Frage zu beantworten, lohnt sich ein Blick in die aktuelle Weiterbildungsordnung z. B. für den Orthopäden und Unfallchirurgen. Die in den letzten Jahren stattgefundene Entwicklung zur Spezialisierung und Superspezialisierung ist natürlich in den aktuellen Weiterbildungsordnungen angekommen. So ist im Vergleich zur alten Weiterbildung zum Unfallchirurgen eine Reduktion der sogenannten Höhlenkompetenz (Abdomen, Thorax, Schädel) erfolgt. Nach neuer Weiterbildungsordnung ist der ausgebildete Orthopäde und Unfallchirurg zwar theoretisch verpflichtet, sich die Kenntnisse für die Notfallversorgung neurotraumatologischer, gefäßchirurgischer oder thoraxchirurgischer sowie viszeralchirurgischer Fälle anzueignen. Aber die Eingriffe hierzu sind zahlenmäßig nur in einem geringem – viel zu geringem – Umfang erforderlich, die eine fundierte Beurteilung und Behandlung zulassen würden. Im Einzelnen sind z. B. zehn operative Eingriffe an Körperhöhlen vorgeschrieben, wozu allerdings auch einfache Thoraxdrainagen gehören. Im Rahmen der Weiterbildung für die spezielle Unfallchirurgie werden zusätzlich noch einmal 25 Notfalleingriffe, einschließlich Trepanationen, Thorakotomien und Laparotomien gefordert. Gerade die Notfall-Laparotomien sind aber zur Ausbildung gänzlich ungeeignet, da hier in der Regel eine zeitkritische Situation vorliegt und somit Aus- und Weiterbildung in der Regel nur eingeschränkt durchgeführt werden kann.

Gefordert ist im Katastrophenfall ein Komplexchirurg – der aber kein Generalist alter Prägung mehr sein kann und soll. Wenn man die Lernabschnitte im Curriculum der Katastrophenmedizin betrachtet und hier speziell im „Leitfaden für die ärztliche Versorgung im Katastrophenfall“ der Schutzkommission beim Bundesministerium des Inneren, dann fällt ein umfangreicher Katalog an Kenntnissen auf, die dort gefordert sind. Zum Beispiel chirurgische Maßnahmen wie die notfallmäßige Erstversorgung von Thoraxverletzungen, von Blutungen und Gefäßverletzungen, Abdomenverletzungen und Beckentraumata, Extremitätenverletzung, Verbrennungen, Verbrühungen und Explosionsverletzungen sowie die Kompetenz bei der Behandlung von Schuss- und Splitterverletzungen. Stellt man sich diesen inhaltlichen Forderungen und berücksichtigt die Tatsache, dass es in der ersten Phase einer Katastrophensituation darauf ankommt, möglichst viele Patienten notfallchirurgisch zu behandeln, so ist jedem klar, dass die zunehmende Spezialisierung und damit die Tendenz hin zum Organchirurgen, diesem Anspruch geradezu entgegenläuft. Es besteht demnach eine Diskrepanz zwischen der Ausrichtung der modernen Weiterbildungsinhalte und dem Drang zur zunehmenden Spezialisierung im Vergleich zu den Kompetenzen, die in großer Zahl im Schadensfall bei Katastrophenereignissen gefordert sein werden. Dieser Komplexchirurg kann und soll nicht der Generalist alter Prägung sein – dafür sind die Fachgebiete, was die Tiefe der Versorgung angeht, viel zu spezialisiert, als dass dies ein Chirurg in der heutigen Zeit abdecken kann. Es geht gezielt um die Frage, welche notfallchirurgischen Maßnahmen beherrscht werden müssen, um in den oben skizzierten Szenarien tätig zu werden.

Allerdings ist festzustellen, dass ein Ausbildungsgang, der sich mit einer breiten notfallchirurgischen Ausbildung beschäftigt, im Rahmen der aktuell vorliegenden Weiterbildungsordnung nur schwer darstellbar ist. Grundsätzlich ist zwar eine breite chirurgische Ausbildung weiterhin möglich, aber sie muss zielstrebig verfolgt und eingehalten werden. Es ist an dieser Stelle anzumerken, dass wir unseren Jungen Chirurgen von Anfang ihrer Weiterbildung an (wenn das ihr Berufsziel ist) klar machen müssen, dass komplex ausgebildete Chirurgen (z. B. für die Behandlung des Polytraumas, eines Massenanfalls von Verletzten oder im Rahmen von komplexen Verläufen) nicht innerhalb einer sechsjährigen Weiterbildungszeit ausgebildet werden können. Eine Ausbildung zu einem breit ausgebildeten Notfallchirurgen benötigt sicher eine Zeit von ca. zehn Jahren.

Als Beispiel seien hier die Chirurgen der Bundeswehr genannt. Sie werden weiterhin grundsätzlich zum Allgemeinchirurgen ausgebildet (sechs Jahre). Nach aktueller Weiterbildungsordnung ist dieses problemlos möglich. Danach erhält jeder Chirurg eine zweite Weiterbildung seiner Wahl inkl. multipler fachlicher Kurse (Neurotraumakurs, Gefäßtraumakurs usw.), was nach der aktuelle WBO nochmals mindestens drei Jahre in Anspruch nimmt, so dass in der Summe eine Weiterbildungszeit von neun bis zehn Jahren entstehen. Da die Chirurgen der Bundeswehr wesentlich in Bundeswehrkrankenhäusern ausgebildet werden, ist es dort möglich, die gezielte Organisation unter Berücksichtigung der Weiterbildungsordnung vorzugeben. Im zivilen Bereich wird es einem Assistenten, der sich zunächst für die allgemeinchirurgische Weiterbildung entscheidet, um so in der notfallchirurgischen Kompetenz breit ausgebildet zu sein, schwer fallen, sich die entsprechenden Inhalte in adäquater Zeit anzueignen. Dies wir im Wesentlichen organisatorische Hintergründe haben, da ein Rotieren zwischen verschiedenen Kliniken mit kürzeren Abständen notwendig wird.

Es bleibt festzustellen, dass die aktuelle Weiterbildungsordnung im Fachgebiet Orthopädie/Unfallchirurgie eher den Spezialisten begünstigt und weniger den Komplexchirurgen, der sich mit der Behandlung polytraumatisierter oder „multidimensional“ verletzter Patienten beschäftigt. Die skizzierten notwendigen notfallchirurgischen Maßnahmen erfordern einen breit ausgebildeten und notfallchirurgisch kompetenten Unfallchirurgen oder Allgemeinchirurgen, was zum jetzigen Zeitpunkt in der Weiterbildungsordnung nicht wiederzufinden ist. Ähnliche Veränderungen wie oben beschrieben ergeben sich auch für andere Fachgebiete.

Zusammenfassung

Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass sich die fachlich-medizinisch notwendigen Kompetenzen in der Einsatz- wie in der Katastrophenchirurgie sehr weit decken und das diese Chirurgie immer in einem Szenario reduzierter Mittel und Möglichkeiten erfolgt (wenn auch nur zeitlich begrenzt). Für diese komplexe Chirurgie werden komplex ausgebildete „Spezialisten“ benötigt, die sich der Aufgabe der Behandlung komplexer Fälle wie z. B. dem Polytrauma, dem Massenanfall oder auch der Katastrophenchirurgie annehmen können. Um dieses dann allerdings zu können ist eine lange Weiterbildung erforderlich, die über die üblichen sechs Jahre deutlich hinausgeht. Um zu erreichen, dass dieser Weg von jungen Kollegen gegangen wird muss eine gesellschaftliche (fachliche wie wirtschaftliche) Anerkennung dieser Tätigkeit erfolgen und es müssen Stellenangebote vorhanden sein, für die es notwendig ist, diesen langen Weg zu gehen.

Friemert. B. / Becker H. P. Katastrophenchirurgie: Wir brauchen den zeitgemäßen Komplex-Chirurgen. Passion Chirurgie. 2015 Februar, 5(02): Artikel 02_03.