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Ein Blick auf Großbritannien bezüglich des Gesundheitssystems, der ärztlichen Arbeitsbedingungen und der Weiterbildung kann neue Perspektiven eröffnen. Ein persönlicher Erfahrungsbericht aus dem „Ear, Nose and Throat (ENT) Department“ des Queen Alexandra Hospitals Portsmouth, Südengland.

Die ärztliche Tätigkeit an deutschen Kliniken ist zweifellos anspruchsvoll und oft psychosozial belastend. Junge Ärztinnen und Ärzte in der Facharztweiterbildung sind unzufrieden, wie eine Umfrage des Marburger Bundes 2021 ergab. Doch wie sieht das im internationalen Vergleich aus? Ein Blick auf das „Nicht-mehr-EU-Land“ Großbritannien (GB) kann neue Perspektiven eröffnen – ohne ein endgültiges Urteil zu fällen.

Mich führten nach meiner fünfjährigen Facharztweiterbildung in der Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde die Liebe und die Gelegenheit nach Portsmouth, Südengland, zu einem Job im Ear, Nose and Throat (ENT) Department im Queen Alexandra Hospital (QA). Dort erwartete mich das National Health System (NHS), das als staatliches, steuerlich finanziertes Gesundheitssystem seit 1948 die freie medizinische Versorgung der Bevölkerung in Großbritannien sicherstellt. Im Gegensatz zum deutschen Gesundheitssystem gibt es in GB keine niedergelassene Fachärzteschaft und es ist bemerkenswert, welche breite Grundversorgung die General Practitioners (GPs – Allgemeinärzte), zu denen auch meine Frau gehört, erbringen, bevor eine Überweisung zur fachärztlichen Behandlung an eine Klinik erfolgt.

Lange Wartezeiten auf fachärztliche Konsultationen

Das QA Hospital in Portsmouth deckt die medizinische Versorgung der lokalen Bevölkerung von etwa 675.000 Einwohnern mit 1.200 Betten, 28 OP-Sälen und 7.200 Beschäftigten ab. In meiner ENT-Abteilung lag die Routinewartezeit für eine HNO-fachärztliche Konsultation bei 102 Wochen. Im Gegensatz dazu mussten mögliche Krebspatienten innerhalb der sogenannten „Cancer waiting time“ (CWT) von zwei Wochen gesehen werden. Ein Großteil dieser CWT-Patienten litt jedoch „nur“ unter einem Globusgefühl. Die Malignomrate der CWT-Ambulanzen lag einem Audit zufolge unter 10 Prozent.

Chronische Erkrankungen der Nasennebenhöhlen, ein deviiertes Nasenseptum oder ein Loch im Trommelfell landeten als Routinefälle auf den sehr langen Outpatient Waiting Lists (OWL). Meiner Ausbildung in Deutschland entsprechend bestanden in den genannten Fällen OP-Indikationen. Im NHS lernte ich jedoch, dass die meisten dieser Fälle auch bei jüngeren Menschen konservativ gemanagt werden können. Eine Hyposensibilisierung (spezifische Immuntherapie) bei allergischer Rhinitis wird im NHS nur an Universitätskliniken bei wenigen ausgewählten Patienten vorgenommen, während dies in Deutschland von niedergelassenen Ärzten routinemäßig angeboten wird.

Fest steht: Kostengünstiger ist das staatlich finanzierte britische System auf jeden Fall. Einem OECD-Report zufolge lagen dort die prozentualen Ausgaben für das Gesundheitssystem am Bruttoinlandsprodukt 2016 bei 9,7 Prozent, in Deutschland dagegen bei 11,3. Allerdings stößt das NHS in verschiedenen Bereichen immer wieder an die Grenzen seiner Kapazitäten. Ein histologisches Ergebnis liegt innerhalb von zwei Wochen vor, wenn es als potenziell maligne vom Arzt gekennzeichnet wird, Routinehistologien liegen frühestens erst nach sechs Wochen vor. Für CT-, MRT- oder Ultraschalluntersuchungen betrugen die Wartezeiten für Routineuntersuchungen mehrere Monate. Auf der anderen Seite werden leitliniengerecht routinemäßig teure PET-CTs für Krebspatienten im Stadium 3/4 durchgeführt.

Im staatlichen englischen System war (bei fehlenden Krankenkassen) meiner Erfahrung nach kein finanzieller Aspekt der Krankenhäuser spürbar, möglichst viele Patienten stationär aufzunehmen oder zu operieren. Im Gegenteil: OP-Indikationen werden bei (über)langen Wartelisten aus medizinischer Notwendigkeit eher später gestellt, wenn konservative Mittel mehrfach versagt haben. Zudem ist die in der deutschen HNO aktuell neu umgesetzte Ambulantisierung von Operationen in England für die meisten HNO-Eingriffe schon seit Jahren Standard.

Die (bauliche) Klinikausstattung beim NHS erinnerte mich an staatliche Institutionen des ehemals kommunistischen Ostens: Sie ist schlicht, karg, zweckdienlich. Im Kontrast dazu gibt es aber innerhalb des QA-Hospitals zwei „Costa Coffee“-Franchises als Erinnerung an das kapitalistische System.

Abbildung 1: Das Queen Alexandra Hospital in Portsmouth deckt die medizinische Versorgung von etwa 675 000 Menschen ab. Foto: privat

Britische Ärzte unterliegen einer strengen Aufsicht

Die Arbeitsbekleidung ist eine weitere Kostenersparnis der britischen Kliniken: Es werden nämlich keine weißen Kittel getragen und man kommt in den eigenen Sachen (in der Regel mit guter Stoffhose, Hemd, Schuhen und gegebenenfalls Sakko) zur Arbeit. Leidet darunter, dass man eben kein „Gott in Weiß“ ist, vielleicht das ärztliche Image?

Abbildung 2: Die Stationsarbeit und die akute Patientenversorgung in den Vordergrunddiensten
decken hauptsächlich die jüngeren Ärzte ab. Foto: privat

Die Ärzte in Großbritannien unterliegen jedenfalls einer strengen Aufsicht. Jährlich müssen alle Ärztinnen und Ärzte neben 50 Weiterbildungspunkten ein „Appraisal“ absolvieren. Dies ist ein knapp einstündiges Gespräch mit einem zertifizierten Appraiser, in dem eigene qualitätsverbessernde Maßnahmen, Patientenbeschwerden, Kollegen- und Patientenfeedbacks und andere Probleme offen dargelegt und „learning points“ diskutiert werden. Ein 3-Punkte-Professional-Development-Plan wird für das nächste Jahr aufgestellt und dieser dann im nächsten Appraisal kontrolliert. Dies erfordert eine beträchtliche Zeit der Vor- und Nachbereitung der elektronischen Dokumentation, die sicherlich anderweitig sinnvoll einzusetzen wäre. Das Appraisal ist aber eine obligate Grundlage für den Erhalt der ärztlichen Zulassung.

Des Weiteren scheint der General Medical Council (GMC) als Äquivalent der deutschen Ärztekammern eher kontrollierend auf die Ärzteschaft zu schauen und weniger unterstützend. Eine GMC-Investigation bei Verdacht auf ärztliche Behandlungsfehler ist in der Kollegenschaft sehr gefürchtet. Initiiert werden diese „investigations“ gefühlt häufiger als in Deutschland. So ein Verfahren prüft die „fitness to practice“ und kann unter Umständen zu Verwarnungen, Auflagen und Supervision für einen gewissen Zeitraum oder sogar einem Berufsverbot führen. Eine Untersuchung von 114 Ärzten, die zwischen 2005 und 2013 verstarben und zum Todeszeitpunkt unter laufender GMC-Investigation standen, ergab 24 bestätigte und vier vermutete Suizide. Leider habe ich auch im eigenen Arbeitsumfeld von betroffenen Ärzten „under investigation“ erfahren.

Dem British Medical Journal zufolge stieg die Zahl britischer Ärztinnen und Ärzte, die früher in Rente gingen, in den letzten 13 Jahren um mehr als das Doppelte. Das durchschnittliche Pensionierungsalter betrug 2020/21 59 Jahre. Auch die Anzahl der praktizierenden Allgemeinmediziner hat sich von 2015 bis Dezember 2021 reduziert. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Aber aus meinem eigenen Klinikumfeld in Portsmouth kann ich diesen Trend bestätigen und sagen, dass ich in Deutschland niedergelassene Ärzte getroffen habe, die noch in ihren 70ern begeistert praktizieren.

Lange und harte Karrierewege im Krankenhaus

Der Weg zum „consultant“ (am ehesten mit dem deutschen Oberarzt vergleichbar) ist in GB lang und hart. Nach dem Abschluss eines teuren Medizinstudiums beginnt man den ersten Job mit zwei „foundation years“ als Senior House Officer (SHO). Dies kann wahrscheinlich am ehesten mit dem früheren deutschen „Arzt im Praktikum“ (AiP) oder Praktischen Jahr (PJ) verglichen werden. Jeweils nach vier bis sechs Monaten wird in diesen zwei Jahren die Fachdisziplin (Chirurgie, Innere etc.) gewechselt. Anschließend entscheidet man sich für eine Fachrichtung. Auf dem Weg ist man auf viele „clinical performance assessments“ und Empfehlungsschreiben höherrangiger Kollegen (Clinical Supervisor) angewiesen. So ist es nicht verwunderlich, dass die meisten jungen Ärztinnen und Ärzte freiwillig viele unbezahlte Überstunden arbeiten.

Will man in GB in die Chirurgie, schließen sich zwei Jahre „core surgical training“ in chirurgischen Fächern und eine Prüfung an. Danach kann man sich für die Weiterbildung in einer spezifischen Fachdisziplin wie HNO bewerben. Die Selektion für diese sehr begrenzten „training posts“ erfolgt in einem kompetitiven, landesweiten Auswahlverfahren. Hat man das gemeistert, darf man eine fünfjährige HNO-Facharztweiterbildung absolvieren. Dabei rotiert man jedes Jahr in eine andere Klinik der entsprechenden Region mit Arbeitswegen von oftmals mehr als einer Stunde pro Strecke. Dafür erhält man aber eine sehr gut angeleitete, strukturierte chirurgische Ausbildung in der Rhinologie, Otologie, HNO-Pädiatrie und Kopf-Hals-Chirurgie (die meisten ENT Consultants in GB sind subspezialisiert). Das Erlernen der Chirurgie erfolgt schon lange anhand der Abzeichnung von Kompetenzen, die in einem elektronischen Logbuch dokumentiert und vom Supervisor abgezeichnet werden. Die deutsche Facharztweiterbildung kann meines Erachtens dahingehend noch verbessert werden.

Letztlich schließt sich dann nochmals eine harte Facharztprüfung mit schriftlichem und zweitägigem mündlich-praktischen Teil an. Vergleicht man dies mit der deutschen Facharztweiterbildung, scheint das gesamte Programm eine gefühlte Ewigkeit zu dauern und eine Vereinbarkeit mit einem Familienleben scheint noch schwerer vorstellbar als in Deutschland.

Gleichwohl wurden beide Facharztabschlüsse bis zum Brexit unter EU-Standards als gleichwertig angesehen. Ein Fellowship bietet in GB zusätzlich die Möglichkeit, auf verschiedenen klinischen Leveln neue (chirurgische) Kompetenzen unter professioneller Anleitung zu erlangen, was für mich sehr lehrreich war.

Im klinischen Alltag empfand ich es als eine besondere Herausforderung, dass die jüngsten Kollegen an der Klinik die Stationsarbeit und die akute Patientenversorgung in den Vordergrunddiensten (in einem 3-stufigen Dienstsystem mit Middle-Grade-Doctors und Consultants im Hintergrunddienst) abdecken mussten. Kurios: Nach sechs Monaten rotieren dann (fast alle) Junior Doctors/SHOs landesweit, um gemeinsam an einem Mittwoch neue Arbeitsstellen anzutreten. Es wird gescherzt, dass man an diesem Tag besser nicht ernsthaft krank werden sollte. Das erfordert eine extreme Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und Lernbereitschaft.

Chefarztrolle wird im Rotationsprinzip vergeben

An deutschen Kliniken gibt es eine klare Hierarchie allein schon anhand der Titel: Chefarzt, leitender Oberarzt, Oberarzt, Facharzt und Ärzte in unterschiedlichen Weiterbildungsjahren. Die Dynamik in einem chefarztlosen System war eine interessante Erfahrung. In meiner Abteilung in GB wechselte die Rolle des Clinical Director, der im Gegensatz zum deutschen Chefarzt nicht allen gegenüber weisungsbefugt ist, unter den Consultants aller vier Jahre im Rotationsprinzip. Fälle wurden auf Augenhöhe diskutiert, was bei Tumorboards und Besprechungen zu einem regen klinisch-akademischen Austausch führte, aber Meetings oft über Stunden ausdehnte.

Angenehm in Großbritannien ist die höfliche Umgangsform. „Hello, how are you? Are you all right?“ gehört ebenso als tägliche Begrüßung zwischen Kollegen dazu wie die nicht förmliche E-Mail-Anrede: „Hello Paul …“ – selbst wenn es sich hier um den vorgesetzten Consultant handelt. Trotz hoher Arbeitsbelastung herrscht unter den meisten britischen Kollegen ein sehr positiver Spirit und eine Begeisterung für die Lehre bei der Weitergabe von Wissen an junge Kollegen.

Eine große Hilfe sind die sogenannten Specialist Nurses und Nurse Practitioners, die im NHS teils ärztliche Aufgaben übernehmen. Am Beeindruckendsten fand ich die Head & Neck Specialist Nurses, die unter der Woche ständige Ansprechpartner, Informationsgeber und Koordinatoren für alle Krebspatienten der Abteilung waren. Die Zeit, die diese erfahrenen Schwestern in intensiven (Beratungs-)Gesprächen mit den Patienten verbringen, ist meiner Meinung nach unglaublich wertvoll. Sehr positiv bewerte ich auch die interdisziplinären Ambulanzen (im Englischen „clinics“), wo Patienten die Chirurgen, Onkologen, Strahlentherapeuten, Logopäden sowie Head & Neck Specialist Nurses während eines Ambulanzbesuchs sehen konnten. Mein Eindruck war, dass in Großbritannien die Krebspatienten aufgrund der bestehenden Protokolle sehr gut betreut werden, während Patienten mit anderen chronischen Erkrankungen mit extrem langen Wartezeiten rechnen müssen.

Unterschiedliche Systeme erschweren Bewertung

Eine abschließende Bewertung der beiden so unterschiedlichen Gesundheitssysteme in Großbritannien und Deutschland ist sicherlich schwierig. Auf jeden Fall ist ein Clinical Fellowship in Großbritannien eine exzellente Möglichkeit, spezifisches Wissen zu erlernen und zu vertiefen sowie subspezialisierte Chirurgie unter Anleitung zu erlernen und neue Erfahrungen in einem anderen Gesundheitssystem zu sammeln. Die Möglichkeiten bestehen, denn die meisten jungen britischen Ärztinnen und Ärzte absolvieren ihr Fellowship am liebsten für ein Jahr im sonnigen Australien.

Zur Person

Florian Schmidt arbeitete nach seiner Facharztweiterbildung in der Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde an zwei deutschen Kliniken (nicht universitär und universitär) für einige Zeit im Ear, Nose and Throat (ENT) Department im Queen Alexandra Hospital (QA) in Portsmouth, Südengland, und machte vielfältige Erfahrungen. Jetzt – zurück in Deutschland – ist er Oberarzt an der Klinik für HNO-Heilkunde und Kopf- und Halschirurgie am Evangelischen Krankenhaus (EVK) Düsseldorf.

Quelle: Dtsch Arztebl 2023; 120(16): A-708 / B-606

Dr. med. Florian Schmidt

Oberarzt

Klinik für HNO-Heilkunde und Kopf- und Halschirurgie

Evangelisches Krankenhaus (EVK)

Düsseldorf

[email protected]

Passion Chirurgie. 2023 Juli/August; 13(07/08): Artikel 09_01.

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