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Die Auswirkungen der „Digitalisierung“ machen sich bereits heute schon auch in einem primär manuell geprägten Fach wie der Chirurgie zunehmend bemerkbar. Dieser Prozess der digitalen Transformation nimmt immer mehr Fahrt auf und wird mit erheblichen Umwälzungen verbunden sein. Wie eine kürzlich durchgeführte Umfrage ergeben hat, sehen Chirurginnen/Chirurgen diese Entwicklung einerseits mit einer gewissen Besorgnis; andererseits sind die Erwartungen hoch, dass die digitale Transformierung letztendlich zu einer Verbesserung der Gesundheitsversorgung führen kann.

Die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie (DGCH) hat deshalb auf Initiative des Generalsekretärs Professor Meyer die Projektgruppe „Digitale Transformierung“ eingesetzt, deren Ziel eine Analyse des Transformationsprozesses ist. Basierend auf dieser Analyse sollen spezielle Chancen für die Chirurgie identifiziert werden und außerdem potenzielle Gefahren rechtzeitig erkannt und Fehlentwicklungen vermieden werden. Nach einer circa einjährigen Arbeitsphase wurden jetzt 25 Statements vorgelegt, die die Position der DGCH zu allgemeinen und konkreten Fragen der digitalen Transformation in der Chirurgie beschreiben. In der Projektgruppe sind neben Vertretern aller chirurgischen Fachdisziplinen auch Naturwissenschaftler, Ingenieure und Informatiker der Deutschen Gesellschaft für Biomedizinische Technik im VDE und der Gesellschaft für Computer- und Roboterassistierte Chirurgie (CURAC) vertreten.

1. Die Auseinandersetzung mit dem Prozess der „digitalen Transformation in der Chirurgie“ ist erforderlich!

„Digitalisierung“ bedeutet zunächst nichts anderes als die Umwandlung von analogen Objekten im weitesten Sinn (Informationen wie geschriebene Texte, verbale Äußerungen, Fotos, Videos et cetera) in digitale Formate, die sich jetzt informationstechnisch verarbeiten lassen. „Digitale Transformation“ beschreibt den tiefgreifenden Umwandlungs- und Verdrängungsprozess, in dessen Ablauf die genannten Objekte zunehmend in primär digitaler Form erfasst werden und analoge Beschreibungen immer mehr entfallen. Da diese Entwicklung einerseits mit Chancen auch für das chirurgische Fachgebiet verbunden ist, aber andererseits Unsicherheiten und Befürchtungen auslöst, ist aus Sicht der DGCH eine kritische Analyse und die Formulierung von darauf basierenden Standpunkten erforderlich.

2. Sinn- und Zweckhaftigkeit, Rechtfertigung des Transformationsprozesses

Die digitale Transformation der Chirurgie ist kein Wert an sich und kein Selbstzweck. Art, Ausmaß, Geschwindigkeit und Tiefe der Umsetzung müssen sich ausschließlich an dem konkret zu erwartenden Nutzen für den Patienten und dem medizinischen Versorgungsprozess orientieren.

3. Der digitale Transformationsprozess aus Sicht der DGCH

Der digitale Transformationsprozess wird aus chirurgischer Sicht prinzipiell begrüßt und unterstützt, da er es wahrscheinlich erleichtert, die gesundheitliche Versorgung der Patienten
– individualisierter
– effektiver
– effizienter
– sicherer
zu machen. Ein großes Potenzial besteht beispielsweise in der prä-, intra- und postoperativen Entscheidungsunterstützung, im Einsatz kollaborativer Assistenzsysteme, der verbesserten Visualisierung durch Methoden der augmentierten Realität, in der intraoperativen Gewebsdifferenzierung und der systematischen Wissensgenerierung durch Data-Mining mit der daraus resultierenden Verbesserung der Evidenz.

4. Nachweis messbarer Vorteile als Voraussetzung für den breiten klinischen Einsatz

Dass die Digitalisierung zu den gewünschten positiven Auswirkungen führt, ist derzeit nur eine – wenn auch plausibel wirkende – Hypothese. Umfangreiche Feldversuche müssen die Vorteile vor der Einführung in die klinische Routineversorgung belegen! In allen Anwendungsgebieten, die Belange der Chirurgie mittel- und unmittelbar betreffen, muss die chirurgische Wissensdomäne miteinbezogen werden. Die klinische Routineversorgung ist kein Experimentierfeld für die Überwindung entwicklungsimmanenter Kinderkrankheiten.

5. Aktive Teilhabe der DGCH

Die DGCH hat die Bedeutung des Transformationsprozesses schon früh erkannt und diese ernst genommen. Deshalb hat sie die Entwicklung themenkompetenter Gremien und Einrichtungen aktiv etabliert und gefördert, die als ausgewiesene, mandatierte fachliche Ansprechpartner für den Dialog um die Gestaltung des Transformationsprozesses zur Verfügung stehen.
Aufgrund ihrer Vorreiterrolle und Kompetenz ist die DGCH der ideale Partner bei der praktischen Umsetzung des Transformationsprozesses. Sie sieht die aktive Mitgestaltung des Transformationsprozesses als besondere Verpflichtung an.

6. Fokussierung des chirurgischen Arbeitspotenzials auf die Kernkompetenz

Die spezifische Kompetenz von Chirurginnen/Chirurgen liegt in der Fähigkeit, interventionelle Eingriffe manuell durchführen zu können. Das chirurgische Arbeitsumfeld muss deshalb so organisiert werden, dass diese Kompetenz optimal genutzt wird! Die Digitalisierung muss zu einer Reduktion der unspezifischen Arbeitsbelastung im ärztlichen und pflegerischen Bereich (administrative Aufgaben, Informationsbeschaffung, Dokumentation und so weiter) führen!

7. Pervasivität der digitalen Transformation in der Chirurgie

Die digitale Transformation in der Chirurgie wird kurz- und mittelfristig nur in den Bereichen Organisation, Administration, Aus- und Weiterbildung sowie wissenschaftliche Evaluation erfolgreich sein. Das eigentliche „Kerngeschäft“ – die manuelle Umsetzung der therapeutischen Maßnahme – wird noch lange immanent digitalisierungsresistent bleiben. Diese Besonderheit ist bei der vorausschauenden Planung besonders zu berücksichtigen.

8. Nur ausgereifte IT-Lösungen für die Praxis!

In die klinische Routineversorgung dürfen verbindlich und verpflichtend nur ausgereifte, zuverlässige, nachweislich störungsfrei funktionierende Lösungen aufgenommen werden! Die inadäquate Forcierung unzureichender Lösungsansätze belastet die Anwender und beeinträchtigt die Bereitschaft zur motivierten Kooperation.
Die Belange der Cybersicherheit müssen vollumfänglich garantiert sein.

9. Berücksichtigung der „Non-Digital Natives“

Nicht alle Patienten, insbesondere unter Berücksichtigung der demografischen Entwicklung, sind zur konsequenten Nutzung moderner digitaler Werkzeuge befähigt oder bereit. Analoge Verfahrenswege müssen deshalb alternativ erhalten und zur Verfügung gestellt werden.

10. Sorgfältige Vorbereitung und Begleitung der chirurgischen Anwender während des Transformationsprozesses

Die chirurgischen Anwender müssen während des Anpassungsprozesses wirksam unterstützt werden (Schulungen, begleitendes Mentoring und so weiter). Negativeffekte müssen auf jeden Fall vermieden werden. Der anfallende Mehraufwand muss kompensiert werden.

11. Sicherstellung der technischen Rahmenbedingungen und der Anwendungsfähigkeit

Der Digitalisierungsprozess muss auch durch internationale Standards und Normen erleichtert werden. Die Interoperabilität muss gewährleistet sein. Es ist nicht Aufgabe von Chirurginnen/Chirurgen inklusive des Assistenzpersonals für die digitale Aus- und Weiterbildung der Patienten zu sorgen oder Defizite in der apparativen Ausstattung beziehungsweise die Korrektur von Fehlfunktionen und so weiter zu übernehmen. Es müssen geeignete begleitende organisatorische Maßnahmen vorgesehen werden, die Patienten auch praktisch in die Lage versetzen, an der digitalen Transformierung teilhaben zu können.

12. Schutz der Helfer

Interventionell tätige Helfer, insbesondere aus den chirurgischen Fachbereichen, sind in besonderem Maß patientenbedingten kontagiösen Risiken ausgesetzt. Die „Notfalldaten“ müssen neben den allgemein bereits akzeptierten Informationen (zum Beispiel Allergien, Medikation) auch Angaben zu kontagiösen Erkrankungen des Patienten umfassen, damit ein entsprechender Schutz der medizinischen Helfer gewährleistet werden kann.

13. Datenhoheit

Der Patient ist der Souverän: Er hat die Datenhoheit über alle validierten Informationen/ Dokumentationen, die in der individuellen elektronischen Patientenakte (ePA) niedergelegt sind (zum Beispiel OP-Bericht, Pathologiebefund, Arztbrief und so weiter). Über die aus unterschiedlichen betriebsinternen Gründen während des Behandlungsprozesses erhobenen zusätzlichen Daten und das Ausmaß dieser Datenerhebung bestimmen und verfügen die verantwortlich handelnden Chirurginnen/Chirurgen beziehungsweise deren Dienstherr. Das umfasst auch die anonymisierte Weitergabe an Dritte, sofern die Patientin/der Patient nicht grundsätzlich der Erhebung und gegebenenfalls Weitergabe widersprochen hat. Diese Opt-out-Regulierung sollte Vorrang vor einer Opt-in-Regulierung haben.

14. Partizipative Therapieentscheidung

Es ist wünschenswert, dass Patienten aktiv in den chirurgischen Behandlungsprozess einbezogen werden und diesen transparent erfahren. Trotz Nutzung modernster Formen der Informationsbeschaffung wird die durchschnittliche Patientin/ der durchschnittliche Patient aber nicht chirurgisches Facharztniveau erreichen können. Eine partizipative Entscheidungsfindung ist dennoch anzustreben unter Berücksichtigung der individuellen Aufklärungserwartung.

15. Maßnahmen zur Vermeidung von Informationsdefiziten durch selektive Datenfreigabe

Die erfolgreiche chirurgische Behandlung setzt die vollständige Kenntnis der relevanten medizinischen Vorgeschichte voraus. Die Patientin/der Patient ist aber berechtigt, frei zu entscheiden, welche Teile der eigenen Vorgeschichte sie/er dem behandelnden Arzt zugänglich machen will. Die selektive Preisgabe von Vorinformationen ist kritisch, denn durch Unkenntnis, Achtlosigkeit oder gar in missbräuchlicher Absicht können Informationsdefizite entstehen, die eventuelle Beeinträchtigungen des Behandlungsergebnisses nach sich ziehen. Für die aktuelle Behandlung muss deshalb eine orientierende Übersicht über den vorhandenen Informationsbestand möglich sein, ohne dass dadurch bereits konkrete inhaltliche Einsichten möglich sind.

16. Schaffung einer ausreichenden Datenbasis

Die Multidimensionalität der chirurgischen Wirklichkeit erschwert die Beschreibung, Modellierung und Standardisierung fachspezifischer Phänomene und Prozesse, da ein hohes Missverhältnis zwischen vorhandenen Daten und der Komplexität der Fragestellungen besteht. Unter den heutigen Bedingungen ist es unwahrscheinlich, dass die massive Erweiterung der Datengrundlage als Voraussetzung für die Anwendung von Maschinenlernen (KI) erreicht werden kann, da die Nutzung von Daten nach den heutigen Regularien auf den Zweck der ursprünglichen Datenerhebung beschränkt ist. Die Nutzung von Daten zu wissenschaftlichen Zwecken muss auch außerhalb des ursprünglichen Zwecks der Datenerhebung möglich sein.

17. Datenspende

Die erhofften Vorteile der digitalen Transformation können sich überhaupt nur dann ausbilden, wenn ein ausreichend großer Datenpool vorhanden ist. Die außerordentlich restriktiven Regeln zur Datenerhebung speziell in Deutschland lassen befürchten, dass diese Datenvolumina nicht bereitgestellt werden können. Die Überlassung von eigenen Gesundheitsdaten zur Förderung wissenschaftlicher Arbeiten in der Medizin durch den Patienten selbst ist ein wertvoller Beitrag zur Verbesserung der Datenbasis. Um die freiwillige Freigabe von personenbezogenen Daten („Datenspende“) muss ebenso aktiv geworben werden wie zum Beispiel für die Organspende. Prinzipiell ist die Bereitschaft der Patienten zur Datenspende für die medizinische Forschung hoch. In Analogie zur Organspende wird die sinnvolle Nutzung dieses besonders hochwertigen Datenpools von medizinischer Seite organisiert und geregelt.

18. Telemedizin

Die Aufhebung des Fernbehandlungsverbotes sieht die DGCH als Chance für eine verbesserte Patientenversorgung trotz schwieriger werdender Rahmenbedingungen. Die technische Infrastruktur für die hochimmersive Telemedizin muss flächendeckend geschaffen werden. Chirurgische Telemedizinanwendungen sollten sich an klaren Qualitätskriterien orientieren müssen, die auch ein Benchmarking ermöglichen. Die DGCH wird alle Bemühungen unterstützen, diese Qualitätskriterien zu entwickeln und einzuführen. Dies gilt auch für das rasant wachsende Angebot an Gesundheits- und Medizinapps hinsichtlich Funktionalität und Effektivität, sofern sie die Chirurgie betreffen.

19. Chirurgische Telemedizinanwendungen

Die Risikoaufklärung vor einem geplanten chirurgischen Eingriff kann rechtsverbindlich telemedizinisch erfolgen. Die intraoperative Telekonsultation ist zulässig und muss adäquat honoriert werden. Die technischen, rechtlichen und organisatorischen Voraussetzungen für die Telenachbehandlung müssen verbindlich definiert werden.

20. Internetpräsenz

Auch die Chirurgie und ihre einzelnen Elemente stehen unter dem Druck der Internetpräsenz. Die Abgrenzung von objektiver Information und reinen Werbungseffekten ist kritisch und in praxi schwierig. Ein „social media code of conduct“ unter Berücksichtigung spezieller chirurgischer Aspekte wird befürwortet.

21. Förderung der aktiven Kooperation zwischen Chirurgie und Forschung/Entwicklung

Die „Digitale Transformation in der Chirurgie“ erfordert eine neue Kultur der Zusammenarbeit zwischen Grundlagenwissenschaftlern, Ingenieuren und Informatikern und Chirurgen. Dazu muss die digitale Kompetenz der Chirurginnen/Chirurgen bereits in der Aus- und Weiterbildung gestärkt werden. Die DGCH wird diesen Prozess aktiv unterstützen.

22. Perioperative Digitalisierung

Die intraoperative Digitalisierung von der Imaging-Technologie über die Robotik und smarte Instrumente sowie intelligente OP-Plattformen mit dem Potenzial zur intraoperativen Assistenz und Entscheidungsunterstützung unter Nutzung von künstlicher Intelligenz bieten ein enormes Spektrum an Möglichkeiten, die zur Optimierung des chirurgischen Outcomes genutzt werden können und sollen. Die Robotik sollte weiterentwickelt werden hin zu aktiven Assistenzsystemen, die nicht nur Telemanipulatoren sind, sondern den Chirurgen aktiv unterstützen, um die Patientensicherheit zu erhöhen. Mögliche Beispiele sind eine „geteilte Autonomie“, bei der der Roboter operative Fehler verhindert oder einfache Aufgaben automatisiert durchführt.

23. Optimierung der chirurgischen Versorgungsqualität durch lernende Systeme

Die Digitalisierung ermöglicht eine umfassende Sammlung, Speicherung und Aufbereitung intraoperativer Daten, wie zum Beispiel Videos in der minimalinvasiven Chirurgie oder Monitordaten aus der Anästhesie. Diese Daten sollen zur stetigen Verbesserung chirurgischer Qualität und Entwicklung datenbasierter Assistenzsysteme genutzt werden. Eine Nutzung zur weiteren Ökonomisierung der Chirurgie oder Überwachung wird abgelehnt.

24. Konsequente Nutzung der Digitalisierung in Edukation und Training

Das Potenzial der „Digitalen Transformation“ in Edukation und Training ist sehr hoch. Die heute vorhandenen technischen Lösungen erlauben aber nur eine marginale Nutzung. Von Forschung und Entwicklung sowie den kommerziellen Anbietern werden dringend innovative Lösungen gefordert.

25. Verbesserung der Evidenzlage in der Chirurgie durch neue Formen der Wissensgenerierung

Bisher ist die randomisierte kontrollierte Studie die einzige Form der allgemein anerkannten Wissensgenerierung. Die digitale Transformierung der Chirurgie eröffnete neue wissenschaftliche Ansätze, zum Beispiel in Sachen des „Data-Mining“, das heißt der Wissensextraktion aus vorhandenen Datenbeständen. Die Herausbildung der neuen Wissensdomäne „Chirurgische Datenwissenschaft“ wird aus diesem Grund ausdrücklich begrüßt. Die DGCH wird diesen neuen wissenschaftlichen Ansatz nachdrücklich fördern.

Quelle: Deutsche Gesellschaft für Chirurgie e.V. (DGCH), Luisenstr. 58/59,10117 Berlin, www.dgch.de, 04.120.2019.