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Das „Human Factors Training“ der Lufthansa und Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie zeigt Ärzten, wie sie ihren Alltag mit Kollegen und Patienten menschlicher gestalten können und dabei eine positive Fehlerkultur entwickeln. Die Erfahrungen dafür kommen direkt aus dem Pilotentraining

Seit Jahren zeigen Zahlen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass viele Fehler im Klinikalltag auf den Faktor Mensch zurückzuführen sind, dennoch entwickelt sich die Bereitschaft zu Veränderungen erst langsam. Ein simples Zahlenexperiment der WHO zeigt allerdings, es ist Zeit für ein Umdenken: „Die Chance beträgt 1 zu 1.000.000, dass eine Person während eines Fluges verletzt wird. Im Vergleich dazu liegt die Chance, dass ein Patient während einer medizinischen Behandlung zu Schaden kommt bei 1 zu 300.“

Aber kann man die Arbeit von Ärzten mit der von Piloten vergleichen? Ja, in einigen Punkten durchaus: So müssen beide Berufsgruppen oftmals in Sekundenschnelle Entscheidungen treffen, die über Leben oder Tod entscheiden können. Außerdem sind sowohl im Flugverkehr als auch in der Medizin schwerwiegenden Unfälle oftmals auf menschliches Versagen zurückzuführen. Es kommt also in beiden Bereichen auf gute Selbsteinschätzung, Entscheidungsfindung und Kommunikation an.

Dieser Artikel erschien zuerst im enorm Magazin, dem führenden Nachhaltigkeitsmagazin im deutschsprachigen Raum. Es will Mut machen und unter dem Claim „Zukunft fängt bei Dir an“ zeigen, mit welchen kleinen Veränderungen jeder Einzelne einen Beitrag dazu leisten kann, sein Leben und Arbeiten zukunftsfähiger und nachhaltiger zu gestalten.

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Sicherlich, die Gründe für Behandlungsfehler im Medizinalltag sind vielfältig und nicht vergleichbar mit denen im Cockpit. Dennoch: ein Großteil könnte verhindert werden, wenn es einen anderen Umgang mit Fehlern und eine offene Kommunikation gebe – davon ist Prof. Bertil Bouillon, Direktor der Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie und Sporttraumatologie am Klinikum Köln-Merheim überzeugt: „Wenn wir uns Analysen im Sicherheitsbereich anschauen, dann ist meist nicht die Technik das Problem, sondern ein Großteil der Fehler ist auf den Faktor Mensch zurückzuführen“.

Weg von den Göttern in weißen Kitteln

Deshalb ging die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) vor einiger Zeit auf die Lufthansa zu, um Trainings ähnlich der für Piloten auch an die Medizinerinnen und Mediziner zu bringen. Das „Human Factors Training“ der Lufthansa legt den Fokus auf die Stärkung menschlicher Fähigkeiten in Extremsituationen. Seither bilden je ein Pilot und Arzt im sogenannten „Interpersonal Competence Training“ medizinisches Fachpersonal in zweitägigen Kursen aus. Gründungsvater des Human Factors Training bei der Lufthansa war Martin Egerth. Als Psychologe hat er das Lufthansa Aviation Training bei der Fluggesellschaft vorangetrieben.

Es hört sich trivial an, geht in der Debatte jedoch oftmals unter: Ärzte und Ärztinnen sind nicht unfehlbare Götter in weißen Kitteln, sondern Menschen und machen Fehler. Wenn diese offen kommuniziert werden ist das die beste Voraussetzung für Lernen, ein gutes Arbeitsklima und Patientensicherheit. Bei Zeitdruck und Personalmangel findet sich dies in Praxen, Kliniken und auf Pflegestationen oftmals nicht wieder.

„Es braucht eine neue Sicherheitskultur an Kliniken, wo entsprechend über Risiken gesprochen wird und man sich bei jedem Fehler fragt: Was ist passiert, warum ist es passiert und wie können wir aus dieser Situation lernen?“, erklärt Bouillon, der selbst auch Human Factors Trainer ist. Um dies zu gewährleisten ist es wichtig, dass bei der medizinischen Ausbildung nicht nur Wissensvermittlung und technische Fertigkeiten im Vordergrund stehe, sondern der Faktor Mensch: „Bei interpersoneller Kompetenz denkt jeder an Kommunikation, es ist aber noch viel mehr: Es geht um Stressmanagement, Teamarbeit, situative Aufmerksamkeit, Entscheidungsfindung und insbesondere Empathie.“

Kurse sind interdisziplinär und interprofessionell

Die Kurse sind nicht nur interdisziplinär – von Notfallmedizinern bis hin zu niedergelassenen Ärzten –, sondern auch interprofessionell: Sowohl Ärztinnen als auch Pflegende, medizinische Fachangestellte und Rettungsassistenten buchen die Kurse. Aber am Ende steht die Frage: Wer bezahlt? Immerhin kosten die zweitägigen Kurse mit Verpflegung und Unterkunft circa 800 Euro. Zumindest Angestellte der berufsgenossenschaftlichen Kliniken werden zukünftig leichter in den Genuss kommen: So versuchen mittlerweile die BGs, die Kurse flächendeckend umzusetzen und nicht nur für das Leitungspersonal, sondern für die gesamte medizinische Belegschaft zu zahlen.

„Eine spannende Studie aus den USA könnte sogar Vorstände von Klinikkonzernen überzeugen, dass interpersonelle Kompetenzkurse einen großen Unterschied machen – auch im wirtschaftlichen Sinne“, fügt Bouillon hinzu. Die bereits im Jahr 2015 veröffentlichte Untersuchung von Moffatt-Bruce und ihren Kollegen konnte zeigen, dass die flächendeckende Einführung solcher Kurse die Patientensicherheit um ein Vielfaches erhöht und letztendlich zu einer Einsparung in Millionenhöhe führen kann. Eigentlich sollten nicht der Kostenfaktor Grund für solche Kurse sein, da Kliniken aber mittlerweile wie Wirtschaftsunternehmen geführt werden, kann dieser „Return of Investment“ möglicherweise ein ausschlaggebendes Argument für eine Geschäftsführung sein.

Dr. Prückner, Direktor des Instituts für Notfallmedizin und Medizinmanagement an der LMU München merkt allerdings an: „Es gibt bereits gutes Risikomanagement an Kliniken, nicht nur bei uns im Institut, sondern im Klinikalltag allgemein.“ So gehören standardisierte Abläufe, beispielsweise über sogenannte „OK-Checklisten“ bei OPs mittlerweile zum Standardrepertoire. Allerdings seien bestimmte Fachbereiche weiter als andere. So würde die Anästhesie an der LMU schon verpflichtende Team-Weiterbildung für kritische Kliniksituationen voraussetzen: „Die Anästhesie war da sicher schon vor Jahren der Vorreiter, was ‚Human Factor Trainings‘ angeht.“

Allerdings sieht Prückner Checklisten alleine nicht als Allheilmittel für mehr Patientensicherheit: „Eine große Gefahr bei der Fülle von Checklisten ist immer, dass man müde wird, diese zu verwenden – Checklisten sind nur ein kleiner Teil.“ Daher werden im LMU-Simulationszentrum anhand von Echtsituationen auch regelmäßig Checklisten auf deren Funktionalität überprüft. Ähnlich dem Human Factors Training der Lufthansa trainiert das Zentrum auch Teamfähigkeit, Kommunikation und Arbeitsorganisation.

„Brauchen Kulturveränderung an den Kliniken“

Und was hält der Risikoexperte vom Lufthansa Aviation Training für Mediziner? „Es ist immer wichtig, dass man das Know-how aus der Luftfahrt nicht eins zu eins in die Medizin überträgt: Wir sind in der Regel nicht in einem Zwei-Mann-Cockpit und steuern eine Maschine, sondern sind in viel komplexere Abläufe eingebunden.“ Oftmals würden sich beispielsweise die OP-Teams ad hoc bilden und man müsse verschiedenen Mitarbeitergruppen Rechnung tragen. So bietet die LMU immer wieder Trainings im Hochrisikobereich wie dem Schockraum an, wo interdisziplinär zusammengearbeitet werden muss.

Prückner begrüßt dennoch das Lufthansa Programm der DGOU: „Jede Initiative, die dazu beiträgt, das Bewusstsein für eine positive Fehlerkultur und ‚Human Factor‘ voranzutreiben ist wichtig.“ Sowohl Bouillon als auch der Risikoexperte sind sich sicher, dass es endlich ein Umdenken an Kliniken bezüglich der Weiterbildung in interpersoneller Kompetenz braucht: „Wir brauchen eine Kulturveränderung an Kliniken, das muss von der Spitze eines Klinikunternehmens vorgelebt werden“, ergänzt Prückner. Die hohen NCs für den Studiengang spielen aber wohl auch eine Rolle.

Beiden Verfechtern von interpersoneller Kompetenz ist spürbar anzumerken, dass es sie tägliche Überzeugungsarbeit kostet, so Prückner: „In einem extrem arbeitsintensiven Alltag ist es oftmals schwierig Zeit, Personal und Budget für Simulationstrainings frei zu machen – dabei sollte es endlich Normalität werden: Schließlich würden Sie auch nicht zu einem Piloten ins Flugzeug steigen, der vorher nicht im Simulator trainiert hat.“

Bouillon geht sogar noch einen Schritt weiter und prophezeit: „Eine stärkere Ausrichtung auf Human Factor könnte die nächste Revolution in der Medizinausbildung werden. Jeder schreibt sich Sicherheit auf die Fahne: Es ist aber wichtig, dass diese nicht nur gelabelt, sondern auch gelebt wird.“ Dazu gehören eben nicht nur fachliche Kompetenzen, sondern Empathie und eine Kommunikationskultur, die das Ansprechen von Fehlern möglich macht – auch am OP-Tisch.

Kost T: Vom Cockpit auf den OP-Tisch. Passion Chirurgie. 2018 Oktober, 8(10): Artikel 09.

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Theresa Kost

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