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Als junges Mädchen war ich beseelt vom „Helfersyndrom“ – nichts anderes als Krankenschwester wollte ich werden. Nach intensiven Diskussionen mit den Eltern durfte ich diesen Weg gehen. Dadurch, dass ich hier schreibe, sehen Sie bereits, dass der Plan sich zwar erfüllt, aber auch geändert hat!

Damals – 1965 – musste ich ein Haushaltsjahr absolvieren, ehe ich die Schwesternschule besuchen durfte. Gleich danach – ich war gerade 18 Jahre alt geworden – begann meine Ausbildung zur Krankenschwester an der Schwesternschule der Universität in Heidelberg. Sehr zukunftsorientierte Unterrichtspläne bereiteten uns Schülerinnen (ja, nur Schülerinnen!) auf das Berufsleben vor – gleich mit der Erwartung, dass wir nach dem Examen in den Kliniken Verantwortung zu übernehmen haben werden. Auch damals herrschte Pflegekräftemangel!

Ich hatte mit ca. 24 Jahren in meinem Wunschberuf das erreicht, was für mich erstrebenswert schien – Stationsschwester im Kollegialsystem in einer Chirurgischen Ambulanz. Aber das noch 40 Jahre bis zur Rente tun? Es erschien mir wie ein Alptraum!

Nach beruflichen Stationen in West-Berlin und Frankfurt/M. keimte der Wunsch in mir auf, doch noch Medizin zu studieren. Nahezu alle „Berater:innen“ rieten mir vom Studium ab, allerdings nicht meine Eltern!

Meinen Zugang zur Hochschule erlangte ich durch das sog. „Begabtenabitur“ – eine Prüfung mit besonderen Kenntnissen in einem Fachgebiet. Ich hatte dazu Anatomie gewählt und fand innerhalb der Klinik wertvolle Unterstützung bei ärztlichen Kollegen in der Pathologie. Mein Ziel war es, nach dem Medizinstudium in die Chirurgie zu gehen. Während des Studiums kamen lauter kritische Stimmen in mein Ohr: „Chirurgie – ist doch für eine Frau viel zu anstrengend, das lange Stehen im OP…“ Irgendwie griffen diese Stimmen Raum in meiner Zukunftsvorstellung, und ich änderte meine Pläne dahingehend, dass ich wohl in die Gynäkologie gehen würde, damit ich noch etwas „Operatives“ hätte.

Dann kam das praktische Jahr – das erste Drittel in der Dermatologie, und danach Unfallchirurgie und Chirurgie. Ich erinnere mich noch genau an den ersten Tag in der Unfallchirurgie – ein Gefühl wie „hier komme ich nach Hause”! Alle Bedenken, die ich während des Studiums verinnerlicht hatte, waren weggeblasen. So entschied ich mich, es in der Chirurgie wenigstens zu versuchen. Sollte es nicht klappen, dann hatte ich es wenigstens versucht!

Ich bewarb mich in der Unfallchirurgie, bekam eine Zusage, jedoch mit unbestimmter Wartezeit. Erinnern wir uns: 1979 gab es in Deutschland eine „Ärzteschwemme“, auf den Schreibtischen der Chefärzte türmten sich Bewerbungsunterlagen, und ich war als Berufseinsteigerin „schon“ 32 Jahre alt! Da lässt die Konkurrenz nicht auf sich warten!

Glück gehabt: Bereits nach sechs Wochen Wartezeit, die ich in einer internistischen Klinik verbrachte, konnte ich meine erste Stelle in der Unfallchirurgie bei Prof. Schauwecker in den Städt. Kliniken Wiesbaden antreten! Da hatte ich also schon mal „einen Fuß in der Tür“!

Als Nicht-Fachärztin blieben mir die großen unfallchirurgischen Operationen verschlossen, aber Metallentfernungen: ja, darin habe ich große Erfahrungen sammeln können.

Nach einigen Veränderungen der Städtischen Kliniken – Umzug, Namensänderung, Chefarztwechsel – konnte ich wechseln in die Allgemeinchirurgie, um Fachärztin für Chirurgie zu werden. Man bedenke: Frauen in der Chirurgie – das war zu dem Zeitpunkt noch etwas Besonderes, wir (in dieser Klinik gab es zu der Zeit bis zu vier Frauen als Ärztinnen, eine große Ausnahme in der Kliniklandschaft!) wurden auch manchmal angeguckt wie „weiße Elefanten“. Das war nicht immer vergnüglich – wenn Äußerungen kamen, dass eine Wundinfektion nur eingetreten sei, weil eine Frau operiert hatte. Wie oft wurde ich gebeten: „Schwester, machen Sie bitte das Fenster zu?“ oder Ähnliches. Zuvor hatte ich aber z. B. die Operation schon mit den PatientInnen besprochen. Und wir Ärztinnen waren weit überdurchschnittlich lange auf der Kinderstation eingesetzt! Es gab noch kein „Curriculum“ für die Weiterbildungszeit!

Später gab es subtile, nie offen geäußerte, Hinweise, dass es in dieser Klinik keineswegs möglich sein würde, als Frau Oberärztin zu werden – ja, das waren einschneidende Erlebnisse, die mich nicht fröhlich werden ließen. Meinen Eltern verdanke ich sicherlich durch deren Liebe und fortwährende ideelle Unterstützung, dass ich mit derartigen Anfeindungen zurechtgekommen bin und ich heute trotz allem von einem schönen Berufsleben schreibe.

Während der Weiterbildung zur Fachärztin war ich ununterbrochen im Marburger Bund Hessen aktiv, später auch in der Ärztekammer. Derartige Aktivitäten wurden manchmal anerkennend, manchmal kritisch beäugt. Ob ich deswegen Nachteile in der Weiterbildung hatte, kann ich nicht sicher einschätzen. Ich nahm sie in Kauf, weil ich keine großartigen Karrierepläne hatte. Allerdings hatte ich den Wunsch zur Promotion, die ich mit 46 Jahren erhielt. Zu diesem Werk erfuhr ich allergrößte Unterstützung und Anerkennung innerhalb der Klinik, sonst hätte ich es auch wohl nicht geschafft.

Inzwischen war ich Ärztin für Chirurgie und Unfallchirurgie geworden, mit allen Zusatzbezeichnungen wie Fachkunde Rettungsdienst, Fachkunde Radiologie und ärztliches Qualitätsmanagement.

Dann kamen auch bei mir Wechseljahre – rückblickend betrachtet habe ich sie wohl wörtlich genommen, obwohl mir das zum damaligen Zeitpunkt gar nicht so klar war! In einer Phase des beruflichen Stillstandes und Suche nach einem neuen Arbeitsplatz kam gerade das Ärzteblatt mit seinen Stellenanzeigen: darin eine Annonce des Alfred-Wegener-Instituts in Bremerhaven. Man suchte Arzt/Ärztin zur Überwinterung an der Neumayer-Station in der Antarktis. Noch am selben Abend, an dem ich das Ärzteblatt aus dem Briefkasten geholt hatte, schrieb ich meine Bewerbung und schickte sie gleich los. Eine Bewerbung wie diese hatte ich noch nie geschrieben! Vorstellungstermin in Bremerhaven, aber Einstellung abhängig von der körperlichen Verfassung! Und letztendlich die Zusage! In der Klinik wurde ich 1999 – man denke an die noch immer vorhandene Ärzteschwemme! – für zwei Jahre beurlaubt. Wunderbar! Damit war eine Rückkehr in ein berufliches Umfeld möglich. Das war für mich – inzwischen > 50 – natürlich ein wunderbares Polster für eine zumindest finanziell abgesicherte Rückkehr.

14 Monate war ich mit einer Gruppe von acht weiteren Personen zum Überwintern in der Antarktis. Das war rückblickend betrachtet das Beste, was ich je in meinem Leben gemacht habe! Heraus aus dem Kliniktrott, tägliche Einblicke in andere Berufe und vor allem – weit über den eigenen Tellerrand hinaus! Was macht der Meteorologe? Was erforschen Geophysiker? Wozu sind die Proben der Luftchemie so wichtig in unserem Umfeld? Kurzum – ich habe viel gelernt über unser „Mütterchen Erde“!

Abb. 1: Ursula Stüwe in der Antarktis

Nach der Rückkehr habe ich aus eigenem Wunsch auf weitere Tätigkeiten im OP verzichtet. Dadurch gab es für mich die Möglichkeit, mich sowohl in der Ambulanz wie gleichzeitig in der Abrechnungsabteilung der Klinik zu betätigen. Die (unsäglichen) DRGs kamen gerade auf, es gab viel zu diskutieren mit allen Fachabteilungen des Hauses und natürlich dem MDK und Krankenkassen. Die Finanzierung einer Klinik erlernte ich durch „Learning by doing“ – und auch, dass längst nicht alles so gehandhabt wird, wie man es sich theoretisch vorstellt.

Parallel dazu engagierte ich mich wieder in der Ärztekammer und wurde 2004 zur Kammerpräsidentin gewählt. Die Kandidatur erwog ich, nachdem ich ausreichend Gelegenheit hatte, das Wirken der männlichen Vorgänger in diesem Amt zu beobachten. Das traute ich mir durchaus zu! Die Arbeit in der Berufspolitik öffnete einen weiteren Horizont im ärztlichen Berufsleben. Leider war das, was ich dort bewegen konnte, im Vergleich zur eingesetzten Zeit und Mühe relativ wenig – die politischen Mühlen mahlen ja doch recht zäh und langsam, und als Chirurgin war ich häufig ungeduldig …

Abb. 2: Ursula Stüwe nach dem Fahnenstecken in der Antarktis

Inzwischen bin ich seit mehr als zehn Jahren berentet. Das Rentnerinnenleben begann ich mit zwei Einsätzen als Schiffsärztin auf der „Polarstern“ mit einigen herausfordernden Gesundheitsproblemen. Das Aufregendste war sicherlich eine Appendektomie auf dem Schiff nahe der antarktischen Halbinsel. Patient und Ärztin geht es auch heute noch gut!

Wenn die Gesundheit es weiterhin zulässt, so freue ich mich, bei der Betreuung von Geflüchteten mitzuarbeiten oder auch in der Impfkampagne sinnvolle Arbeiten zu tun. Aber darüber hinaus bieten Universitäten hervorragende Programme für Ü-50-Menschen an! Da ist Zeit, sich mit interessanten Dingen zu befassen, zu denen während des schönen und interessanten Berufslebens keine Zeit war. Herrlich ist es, schon am Vormittag ein anspruchsvolles Buch lesen zu können!

Quintessenz nach einem wunderbaren Berufs- und Arbeitsleben

So etwas wie „Karriereplanung“ habe ich nie gemacht, auch bin ich aufgrund der eigenen Erfahrungen davon überzeugt, dass man zwar kurzfristige Ziele haben sollte, doch darüber hinaus ist es wunderbar, wenn sich plötzlich unerwartete Chancen eröffnen! Und dann muss man zugreifen! „Karriere“ sollte individuell interpretiert werden!

Abb. 3: Erfolgreich herausoperiertes Appendixpräparat auf der „Polarstern“

Ärztinnen – ja, auch das war während des berufspolitischen Lebens immer ein Thema, allerdings habe ich mich da nur wenig einbringen können (und wollen). Sind wir denn etwas Besonderes? Ich meine, nein. Während meiner Zeit als Ärztekammerpräsidentin habe ich es erreicht, dass der Ausschuss „Ärztinnen“ bei der Bundesärztekammer abgeschafft wurde. Darauf bin ich stolz, auch wenn ich mir damit einige Feindinnen gemacht habe. Ärztinnen müssen und können und sollen sich überall einbringen!

Gegen Ende meines aktiven Berufslebens habe ich mit großer Freude junge Kolleginnen beobachtet, die sich schnell und wie selbstverständlich in der Chirurgie zurechtfanden. Sie wurden nicht mehr wie „weiße Elefanten“ angesehen. Ich hatte den Eindruck, dass wir „Alten“ doch den Weg vorbereitet hatten. Allerdings beobachtete ich auch, in welche Zwänge junge Mütter kamen, die Beruf und Familie vereinbaren mussten – meistens jedoch, ohne auch den Vater aktiv mit einzubeziehen. Ein dauerhaftes „schlechtes Gewissen“ einer Ärztin ist weder für die Familie noch für die PatientInnen gut! Gleichzeitig erstaunt es mich aber auch immer wieder, dass Ärztinnen eine besondere „Zuwendung“ benötigen in eigenen Zirkeln, in denen diese Themen – weiterhin ungelöst – diskutiert werden. Da ist – nach meiner Überzeugung – nur eine Verbesserung und Änderung zu erwarten, wenn Arbeitszeiten vernünftig geregelt sind, Arbeitsstunden auch zuverlässig bei ausreichendem Personalbestand eingehalten werden können und Väter mehr und mehr an der Familienarbeit beteiligt werden.

Wie sagte ein schon pensionierter Chefarzt auf einem Chirurgenkongress in München, Unterthema „Ärztinnen in der Chirurgie“, vor vielen Jahren: ja, er habe von seinen Kindern nicht viel gehabt, die seien quasi ohne ihn groß geworden. Jetzt war er glücklich, sich mit den Enkeln befassen zu können! Diese Sitzung war die, auf der am allermeisten gelacht wurde von allen Kongressen, die ich je besucht hatte! Und schon deswegen ist es wichtig und richtig, dass Ärztinnen in der Chirurgie aktiv tätig sind!

Dr. med. Ursula Stüwe

[email protected]

Panorama

Stüwe U: Karriereplanung? Nein, danke! Passion Chirurgie. 2022 Mai; 12(05): Artikel 09_01.

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