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Die Babyboomer kommen in die Jahre – Wie viele Orthopäden und Unfallchirurgen braucht Deutschland?

Nach der „Global Burden of Disease Study 2010“ stehen die muskuloskelettalen Erkrankungen und Verletzungen in allen Ländern der westlichen Welt zahlenmäßig weit vorn. Nun kommen auch die Babyboomer langsam in die Jahre. Mit ihrem Alter steigt die Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen. Diese Menschen der geburtenstarken Jahrgänge von 1955 bis 1969 sind heute zwischen 50 und 60 Jahre alt und stehen gewissermaßen vor den Türen orthopädischer und unfallchirurgischer Praxen und Kliniken. Ihre Generation ist zahlenmäßig stark. Die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie e.V. (DGOU) erwartet daher einen absehbar steilen Anstieg bei der Inanspruchnahme orthopädisch-unfallchirurgischer Leistungen. Doch für die Sicherung einer hochwertigen medizinischen Versorgung müssen mit den steigenden Patientenzahlen auch die Versorgungsstrukturen mitwachsen.

Ist eine Bedarfsanalyse möglich?

Wer diese nachhaltig beeinflussen und mitgestalten will, muss allerdings zunächst den genauen Bedarf kennen. Dazu hat die DGOU gemeinsam mit dem Zentrum für Evidenzbasierte Gesundheitsforschung (ZEGV) in Dresden 2013 eine Studie zur Bedarfsanalyse initiiert: „Orthopädisch-unfallchirurgische Versorgung bis 2050“ [2]. ZEVG-Direktor Professor Dr. Jochen Schmitt und Wissenschaftler Dr. Thomas Petzold haben anhand von Daten des Forschungszentrums des Bundes und der Länder sowie des Wissenschaftlichen Instituts der AOK die Inanspruchnahme von Leistungen analysiert. Im Vordergund standen vier häufige orthopädisch-unfallchirurgische Erkrankungsgruppen: Arthrose, Rückenschmerz, Osteoporose und Trauma. Als Grundlage für eine Aussage zur Prognose wurde die derzeitige Versorgung anhand von GKV-Routinedaten analysiert. Dazu wurden im ambulanten Bereich die Arzt-Patienten-Kontakte und im stationären die Fallzahlen analysiert. Nachfolgend wurde mittels der Bevölkerungsprognose des Statistischen Bundesamtes der Versorgungsbedarf bis 2050 prognostiziert und durch die Ärztestatistik der Bundesärztekammer die Anzahl notweniger Leistungserbringer ermittelt. Somit wurden die Daten auf Basis der heutigen Zahlen fortgeschrieben. Diese Art der Analyse erzeugt jedoch einen gewissen Unsicherheitsfaktor. Aus diesem Grund wurde die Widerstandsfähigkeit der Daten überprüft: Die Randbedingungen in den Berechnungen wurden zum Teil geändert und Schwankungsbreiten zusätzlich ermittelt.

Das Ergebnis der Studie zeigt: Bis 2040 wird ein Anstieg an Arzt-Patienten-Kontakten für Arthrose, Rückenschmerz, Osteoporose und Trauma prognostiziert. Dies ist streng mit der Zunahme älterer Patienten über 65 Jahre assoziiert. Schwankungen der Bevölkerung, der Morbidität und des Versorgungsbedarfes von plus bzw. minus fünf Prozent ändern daran nichts Grundsätzliches. Von 2040 bis 2050 jedoch sinkt die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen bei allen analysierten Erkrankungen wieder. In der logischen Konsequenz macht der vorübergehend ansteigende Versorgungsbedarf auch eine temporäre Mehrzahl an zusätzlichen ärztlichen Leistungserbringern erforderlich. Der Einfluss der derzeitigen Migrantenströme konnte zum Zeitpunkt der Studie noch nicht erfasst oder hochgerechnet werden. Er wird den Bedarf noch erhöhen, das demografische Problem jedoch kaum beeinflussen.

Die Versorgungslast für Orthopädie und Unfallchirurgie steigt

Die Orthopädie und Unfallchirurgie wird eines der wenigen Fächer sein, das durch die alternde Bevölkerung eine erhebliche Versorgungslast zu tragen hat. Wie die Studie zeigt, allerdings nur für eine begrenzte Zeit: Denn schon ab dem Jahr 2040 wird sich der Bevölkerungsrückgang auch auf das Fach Orthopädie und Unfallchirurgie auswirken. Im Zentrum steht also die Frage, ob eine vorübergehende Zunahme eines orthopädisch-unfallchirurgischen Versorgungsbedarfs nur durch mehr Ärzte im Fach O&U gedeckt werden kann oder ob es andere Lösungsansätze für diese Problematik gibt? Denn: Was machen Ärzte, die nach studentischer Ausbildung ab dem Jahr 2020 in den Beruf eintreten und bei einer über vierzigjährigen Berufstätigkeit ab dem Jahr 2040 auf eine langsam und dann ab 2050 deutlich abnehmende Bevölkerung in Deutschland treffen?

Ein weiterer Aspekt: Es gibt immer mehr Frauen in der Medizin. Unter den jungen Medizinerinnen sind viele, die in Teilzeit arbeiten wollen. Die zunehmende Zahl von Teilzeitbeschäftigten und angestellten Ärzten und Ärztinnen beeinflusst ganz maßgeblich den Ärztebedarf: Im Angestelltenbereich werden im Vergleich zur freien Niederlassung nur 75 Prozent der Leistungen erbracht.

Osteoporose, Arthrose, Frakturen und Rückenschmerz sind Volkskrankheiten

Im Detail sieht das Bild für die analysierten Krankheiten wie folgt aus: Bis 2050 gibt es eine errechnete Zunahme an Arzt-Patienten-Kontakten bei der Arthrose um 18 Prozent, bei der Osteoporose um 25 Prozent, bei den Frakturen großer Röhrenknochen um 11 Prozent, aber eine Abnahme um 6 Prozent beim Rückenschmerz. Der Rückgang der Rückenschmerzpatienten ist insbesondere darauf zurückzuführen, dass diese der mittleren Altersgruppe angehören, die wiederum durch den demografischen Wandel immer kleiner wird. Mit diesem Rückgang ist bereits in circa 20 Jahren zu rechnen, während derzeit eine stets steigende Zahl von Wirbelsäulenchirurgen aus- und weitergebildet wird.

Ungesteuerter Zugang in der Wirbelsäulenchirurgie

Dass die Weiterbildung von Fachärzten wohl bedarfsgerecht gesteuert werden muss, wird am Beispiel der Neurochirurgie deutlich. Die Anzahl der Neurochirurgen hat sich in den letzten 20 Jahren verdreifacht. Viele der neu ausgebildeten Fachärzte betätigen sich im Bereich der Wirbelsäulenchirurgie – sogenannte Wirbelsäulenzentren entstehen fast täglich. Die Zahlen der DGOU-Bedarfsanalyse lassen jedoch vermuten, dass in 20 Jahren die Arzt-Patienten-Kontakte beim Rückenschmerz zurückgehen werden. Und so sieht es selbst die Deutschen Gesellschaft für Neurochirurgie kritisch, dass immer mehr Neurochirurgen in den „Markt“ entlassen werden. Der Versorgungsatlas der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC) zeigt, dass es in den letzten zehn Jahren zu einer Zunahme der Leistungen in der Wirbelsäulenchirurgie gekommen ist. Diese kann nicht mehr allein durch den Alterswandel oder technologischen Fortschritt erklärt werden. Die Vermutung liegt nahe, dass es im Bereich der Wirbelsäulenchirurgie eine angebotsinduzierte Nachfrage gibt – so wie sie zum Beispiel in den USA nachgewiesen wurde. Die weitere Entwicklung zu antizipieren wäre daher notwendig. Eine Planung oder sogar eine Begrenzung der Anzahl der Weiterbildungsassistenten gibt es jedoch bisher nicht.

Gutes Beispiel

In anderen Ländern hält man eine Bedarfsplanung für unerlässlich, um Fehlsteuerungen im Gesundheitssystem zu vermeiden. In den Niederlanden zum Beispiel orientiert sich die Zahl der zur Weiterbildung für Orthopädie und orthopädische Chirurgie zugelassenen Assistenten an den zur Verfügung stehenden Weiterbildungsplätzen und dem Versorgungsbedarf bestimmter Erkrankungen. Beides wird regelmäßig durch eine unabhängige Stelle überprüft, die mit der Fachgesellschaft zusammenarbeitet. Eine Überversorgung durch Ärzte soll somit vermieden werden. Das lässt sich der Staat allerdings auch einiges kosten. Jede Weiterbildungsstelle wird mit circa 100.000 Euro pro Jahr finanziert.

Konsequenzen für Deutschland

In allen gesetzlichen Vorlagen in Deutschland wird eine „bedarfsgerechte“ Versorgung der Bevölkerung gefordert. Über-, Unter- und Fehlversorgung werden immer wieder im Gutachten des Sachverständigenrates thematisiert. Was jedoch eine bedarfsgerechte Versorgung ist, bleibt sehr vage. Dabei ist es sehr naheliegend, den Bedarf für die schwierigen Jahre des demografischen Wandels in Deutschland zu berechnen – zumindest für die großen Leistungserbringer bzw. die Volkskrankheiten. Die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) hat dies getan. Sie sieht sich in ihrer Annahme bestätigt, dass eine Bedarfsplanung für den medizinischen Bereich erforderlich ist. Nur so können die Anforderungen an die Versorgungsstrukturen und die Personalausstattung bestimmt werden. Die bevorstehende demografische Veränderung spielt sich innerhalb von drei bis vier Jahrzehnten ab – das entspricht weniger als einem Berufsleben. Diese Tatsache macht es notwendig, dass man sich mit sinnvollen temporären Lösungen zur Deckung des Mehrbedarfs beschäftigt. Dabei können sektorenübergreifende Ansätze eine Rolle spielen. Die Orthopädie und Unfallchirurgie weist aufgrund ihrer Weiterbildungsstruktur Kompetenz sowohl in der konservativen als auch in der chirurgischen Versorgung auf. Konzepte, die bessere Absprachen zwischen niedergelassenen Ärzten und Klinikärzten ermöglichen, sind daher in diesem Fach besonders geeignet, die Herausforderungen der demografischen Veränderungen zu meistern.

Die Babyboomer sind derzeit eine sehr starke Alterskohorte, die für wenige Jahrzehnte den Gesundheitsmarkt prägen wird – sie sind allerdings ein vorübergehendes Phänomen.

Literatur

[1] T. Petzold, E. Haase, F. U. Niethard, J. Schmitt (2016) „Orthopädisch-unfallchirurgische Versorgung bis 2050“, Orthopäde 45.

[2] F. U. Niethard: „Bedarfsanalyse – Bedarfsplanung“, Orthopädie und Unfallchirurgie – Mitteilungen und Nachrichten, 2016/1.

Hoffmann R. / Kladny B. / Niethard F. Steigende Patientenzahlen. Passion Chirurgie. 2016 Mai, 6(05): Artikel 02_05.

Autoren des Artikels

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Prof. Dr. med. Dr. Reinhard Hoffmann

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